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25 - Ardistan und Dschinnistan II

25 - Ardistan und Dschinnistan II

Titel: 25 - Ardistan und Dschinnistan II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Richter, nämlich auf Thronsesseln, welche in edlen Steinen und Metallen prangten. Sie waren köstlich gekleidet und mit herrlichen Ringen, Ketten und Rangauszeichnungen geschmückt. Aber wenn man genauer hinsah, so erkannte man, daß alle diese Metalle und Steine unecht waren. Es gab alte, mitteljährige und junge unter ihnen, je nach den Jahren, in denen sie gestorben waren. Man sah, daß auf die Behandlung und Erhaltung ihrer Körper nicht weniger Sorgfalt verwendet worden war als bei den Lamas, und doch standen sie in Beziehung auf den Eindruck, den sie machten, trotz all ihres Putzwerkes, Prunkes und Geschmeides weit hinter ihren Richtern zurück, die so anspruchslos, fast dürftig gekleidet waren. Es fehlte ihnen die Majestät des Todes. Sie hatten während ihres Lebens so viel Majestät ausgegeben, daß sie nun für die Zeit nach dem Tod keine mehr besaßen. Sie hatten ihre Blicke nicht erhoben. Sie schauten alle nieder, ein jeder auf das Buch oder Heft, welches er auf den Knien vor sich liegen hatte, sein Konto aus dem großen Schuldbuch des ganzen Geschlechtes, dem er angehört hatte und auch jetzt noch angehörte. Sie waren alle gefesselt, an den Händen und an den Füßen, mit Stricken und mit Ketten. Einige von ihnen trugen sogar Nackenhölzer, was in den Zeiten, in denen sie lebten, ein Zeichen tierischer Grausamkeit und ehrloser Gesinnung war.
    Ich bin in manchem Panoptikum gewesen und habe da viele hundert Nachbildungen von verstorbenen Menschen gesehen. Stets fühlte ich mich da abgestoßen, hier aber nicht, obgleich es sich in dieser Dschema nicht um künstlich hergestellte Figuren, sondern um wirkliche Leichen handelte. Der Ekel, der mich bei jenen Schaustellungen stets und unausbleiblich überkam, blieb hier vollständig aus. Was war der Grund hierfür? War die Ursache eine körperlich sinnliche oder eine psychologische? Wie jede Lüge abstoßender wirkt als selbst eine häßliche Wahrheit, so erscheint ganz besonders auch ein vorgelogenes oder vorgetäuschtes Leben widerlicher als die zwar grausame, aber natürliche Wahrheit des Todes. Und der Tod, den wir hier vor uns sahen, schien gar kein Tod zu sein, sondern vielmehr eine plötzliche, augenblickliche Stockung des Lebens, die wohl schnell vorübergehen werde.
    Aus diesen Gedanken und Betrachtungen wurde ich durch die laute Stimme des Mir gerissen. Wir andern waren still. Es dünkte uns wie eine Entheiligung das, was wir innerlich empfanden, in hörbare Worte zu verwandeln. Zwar in den ersten Augenblicken war dies auch bei ihm der Fall gewesen. Er hatte bewegungslos gestanden und gestaunt. Jetzt aber rief er plötzlich aus:
    „Mein Vater, mein Vater!“
    Er eilte auf den betreffenden Toten zu, blieb einige Schritte vor ihm stehen, hob die Arme empor und wiederholte:
    „Mein Vater! Mein Vater! Gefangen und gefesselt! Du, du!“
    Er kehrte mir dabei den Rücken zu; ich konnte sein Gesicht nicht sehen; aber der Ton seiner Stimme ließ auf die tiefste Seelenerregung schließen.
    „Und auch du, auch du!“ fuhr er fort, den Kopf ein wenig wendend. „Der Vater meines Vaters! Mein Großvater! Was wirft man euch vor, euch, euch? Sagt es mir! Ich muß es wissen!“
    Er horchte einige Augenblicke lang und trat dann näher an sie heran, indem er sprach:
    „Ihr schweigt? Wohl, wohl! Ihr müßt ja schweigen! Ihr seid ja tot! Ihr konntet euch nicht wehren, als man das Verbrechen beging euch heimlich hierher zu schaffen! Ich werde das untersuchen! Und wehe dem Schuldigen, den ich fasse! Zunächst aber muß ich wissen, wessen man euch beschuldigt! Zeigt her, zeigt her!“
    Die Aufregung in der er sich befand, war groß. Er riß die Hefte, welche vor den beiden Toten lagen, an sich und ging mit ihnen zum nächsten Kandelaber, setzte sich dort nieder und begann zu lesen. Doch nicht lange. Er las den Titel und die Überschrift des einen Heftes, überschlug langsam die Blätter und verweilte mit Aufmerksamkeit nur bei den letzten Seiten. So tat er auch mit dem andern Heft. Hierbei beobachtete ich ihn genau. Ich sah, daß seine Aufregung ebenso schnell wie sie emporgebraust war, wieder nachließ, von Stufe zu Stufe sank, durch alle Grade, bis sie schließlich bei der Niedergeschlagenheit anlangte. Er stand wieder auf, kehrte zu Vater und Großvater zurück und legte die Hefte wieder an ihre Stelle, ohne ein Wort zu sagen. Er sah dabei aus, wie ein Mensch, der aus der Höhe des Zorns in die Tiefe der Scham gefallen ist und dies äußerlich nicht verbergen kann.

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