25 - Ardistan und Dschinnistan II
Dann ging er zu einigen der andern Ahnen, nicht zu allen, sondern nur zu denen, die am bequemsten zu erreichen waren, und schaute in ihre Bücher. Ich bemerkte, daß er dabei nur die letzten Seiten nachschlug. Hierauf stieg er zu Abu Schalem hinauf und begann, das Hauptbuch einer Besichtigung zu unterwerfen. Ich hatte vorher da oben gestanden, ohne dieses Buch zu berühren, war aber dann zu den andern Maha-Lamas herabgestiegen, um sie genauer zu betrachten, und befand mich jetzt bei den Ardistaner Herrschern, deren Namen und Regierungszeiten man sehr leicht erfahren konnte, weil die betreffenden Angaben auf den vorderen Umschlagseiten ihrer Kontobücher standen. Aus dem Verhalten des Mir war zu ersehen, daß der Hauptinhalt dieser Bücher auf deren letzten Blättern zu suchen sei. Ich nahm das Buch dessen, bei dem ich grad stand, und betrachtete es. Der Umschlag bestand aus weißem Leder. Darauf war in schwarzer, großer, wohlgezierter Parthavaschrift zu lesen:
„Mir Burahdär-i-Mihribani, in den Jahren 102-112 der Hedschra.“
Burahdär-i-Mihribani heißt Bruder der Güte. Dieser Name läßt doch jedenfalls auf einen guten Charakter schließen, zumal er ein offizieller Regierungsname ist. Auch hatte dieser Herrscher nach unserer abendländischen Zeitrechnung nicht volle zehn Jahre regiert. Ich war also wohl zu der Erwartung berechtigt, auf ein nicht unbefriedigendes Konto gestoßen zu sein. Was aber fand ich? Ich schaute zunächst nach der letzten Seite. Sie enthielt das Summarium. Acht von den zehn Jahren waren Kriegsjahre gewesen. Alle durch sie entstandenen Verluste an Menschen, Tieren, Kapital, Landbesitz und anderen, sich auf den Volkswohlstand beziehenden Dingen waren da angeführt. Nur allein die Opfer an Menschenleben betrugen über fünfzigtausend. Und dieser Herrscher war ‚Bruder der Güte‘ genannt worden! Was mochte da wohl in den Büchern der andern stehen! Den Verfassern dieser Abschätzungen und Aufstellungen war es darauf angekommen, vor allen Dingen die Verderblichkeit der Kriege und die Schuld der einzelnen Herrscher an der Entstehung dieser Menschenschlächtereien nachzuweisen. Besonders auch waren die Folgekrankheiten angegeben und die Ziffern, aus denen sich die ihnen zugefallene Beute erwies. Ein Blick auf die vorangehenden Seiten zeigte, mit welcher Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit die Untersuchungen und Berechnungen vorgenommen worden waren. Aber diese Angaben bezogen sich doch nicht allein auf die Kriege, an denen der ‚Bruder der Güte‘ schuld gewesen war, sondern auch auf alle andern Schädigungen, welche die Menschheit seiner Zeit durch ihn erlitten hatte. Da waren die Hinrichtungen aufgeführt, die Vertreibungen aus dem Land, die Vermögenskonfiskationen, die Verurteilungen gegen Recht und Gerechtigkeit, die Begünstigungen, der offene und der versteckte Raub durch Gewalttätigkeit und durch List. Nicht nur die Zahlen, um die es sich gehandelt hatte, sondern auch die Namen der Betroffenen waren angegeben. Es gab da keinen Zweifel. Die Beweise wurden sogar durch den Hinweis auf das Hauptbuch und auf die Schuldbücher der betreffenden einzelnen Fürsten geführt. Da wurde Verbrechen auf Verbrechen nachgewiesen, Unmenschlichkeit auf Unmenschlichkeit, Heimtücke auf Heimtücke, Trug auf Trug. Die Völker waren nur dagewesen, um –
„Effendi!“ rief der Mir mir zu, meine Betrachtungen unterbrechend.
Ich schaute fragend zu ihm hin.
„Du lasest?“ fuhr er fort.
„Ja.“
„Ich bitte dich, das Buch hinzulegen!“
„Warum?“
„Ist es dir nicht genug, daß ich dich bitte? Muß ich dir erst sagen, daß es sich nicht um deine Vorfahren handelt, sondern um die meinigen? Komm herauf zu mir! Ich will dir etwas zeigen. Dieses eine sollst du erfahren. Mehr ist nicht nötig. Das übrige braucht niemand zu wissen, als nur ich allein, denn ich, ich bin der Erbe, der Belastete, die Bestie, auf der die Sünden aller, aller liegen. Komm her; komm her!“
Das klang nicht etwa befehlend, sondern bittend, fast flehend, so traurig, so innerlich zermartert und zerdrückt. Ich legte das Konto, in dem ich gelesen hatte, dahin zurück, wohin es gehörte, und stieg zum Mir hinauf. Er hatte die letzte Seite des großen Buches aufgeschlagen.
„Lies!“ forderte er mich auf, indem er auf sie deutete.
Ich tat es. Was waren das für entsetzliche Aufstellungen, für fürchterliche Ziffern! Mir flimmerte es vor den Augen. Das schien unglaublich zu sein, und dennoch war es wahr!
„Fertig!“
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