25 - Ardistan und Dschinnistan II
Mir den Inhalt des andern Pakets, um vor allen Dingen die Bilder seiner Ahnen kennenzulernen. Dabei rief er einmal kurz hintereinander:
„Maschallah! Mein Vater! – Und hier auch der Vater meines Vaters, den ich auch noch gekannt habe! Wie wunderbar sie getroffen sind! Genau, als ob sie lebten! Wer hat das getan? Wer hat das gemacht? Wer ist das gewesen? Niemand weiß etwas davon? Niemand hat das schon gesehen! Das ist heimlich angefertigt worden? Warum hat man uns nicht gefragt?“
Da brach wieder einmal der ‚Herrscher‘ bei ihm durch. Ich wollte antworten, da aber kam mir der Dschirbani zuvor:
„Du meinst, man hätte euch fragen müssen?“
„Natürlich!“ antwortete der Mir.
„Du irrst. Schau die Aufschrift: ‚Die Angeklagten‘! Wo gibt es einen Richter, der seinen Angeklagten um die Erlaubnis bittet, ihn mit den andern Angeklagten zusammenstecken zu dürfen, gleichviel ob in wirklicher Person oder auch nur im Bild? Keine Dschema fragt; sie tut, was sie beschlossen hat, also, was ihr beliebt!“
Eine solche Zurechtweisung hatte der Mir nicht erwartet, zumal von dem jüngeren Mann, den man den ‚Räudigen‘, den ‚Wahnsinnigen‘ genannt hatte, und dessen Benehmen gegen ihn ein bisher so höfliches, rücksichtsvolles, ja beinahe dienstwilliges und fügsames gewesen war. Dieses Mal aber stand dieser junge Mann hochaufgerichtet vor ihm, und in seinem sonst so freundlichen Auge lag eine zurück- und zurechtweisende Strenge, von welcher der Zorn des Mir ganz unbedingt abzuprallen hatte. Als sie jetzt ihre Blicke ineinander tauchten, als ob es eine gegenseitige Prüfung der tiefsten Seelentiefe gelte, hob sich der Dschirbani ganz unbedingt hoch über den Mir, und es war, als ob dieser letztere dies auch wirklich fühle und empfinde, denn er legte die Bilder seiner Vorfahren in unsanfter, ärgerlicher Weise aus der Hand und sagte:
„Weg mit ihnen! Wenn die, von denen man Freude, Stolz und Ehre verlangt, nur Enttäuschung Scham und Ärger bringen, so verliert man die Geduld und hört am liebsten auf, ein Sohn und Enkel zu sein!“
Er ging hinaus, und wir folgten ihm, weil wir keine Zeit hatten, uns für dieses Mal länger mit der Bibliothek zu beschäftigen.
Nach den beiden Sälen, denen unsere Wißbegierde schon lange im voraus entgegeneilte, gelangten wir erst im Verlauf des Nachmittags. Wie gespannt wir alle waren, als wir vor der Seitentür standen, über der wir die Inschrift ‚Dschema der Toten‘ lasen! Besonders wir beide, Halef und ich, wir hatten doch sehr viel gesehen und sehr viel erlebt und erfahren, aber es fällt mir jetzt, indem ich dieses schreibe, wirklich keine Situation und keine Gelegenheit ein, bei der unsere innere Spannung eine größere gewesen wäre als in dem Augenblick, in welchem wir von dem Eingang zu diesem ebenso großen wie gedankentiefen Geheimnis standen.
Die Deutlichkeit erfordert, zu sagen, daß diese beiden Säle keine direkten Türen nach dem außen rundherum führenden Säulengang hatten. Sie waren nur durch die Räume, die neben ihnen lagen, zu erreichen, und darum habe ich nicht von einer Türe, sondern von einer Seitentür gesprochen. Diese führte aus dem Nebenraum nach der ‚Dschema der Toten‘. Von da kam man wieder durch eine Seitentüre in die ‚Dschema der Lebenden‘, und von da führte eine dritte Seitentür in den jenseitigen Nebenraum, aus welchem man dann wieder in das Freie gelangte. Diese Seitentüren waren ebenso zu öffnen wie die Haupttüren.
Als wir in die ‚Dschema der Toten‘ traten, sahen wir uns von einem mystischen Halbdunkel umfangen, welches uns zwar erlaubte, Gestalten zu sehen, nicht aber auch, ihre Umrisse unterscheiden zu können. Der Saal war groß, sehr groß und auch sehr hoch. Durch die kleinen Fenster konnte nicht genug Licht herein, um die nötige Helle zu geben; aber es waren Kandelaber aufgestellt, deren Arme viele, starke Lichter trugen. Wir brannten sie an, und nun wurde es mehr als hell genug, so daß wir alles nicht nur deutlich sehen, sondern auch genau betrachten konnten.
Man hatte beim Aushauen des Saals riesige Säulen und Pfeiler stehen lassen, auf denen die hochgewölbte Decke ruhte. Sie standen in zwei Reihen, durch welche drei Abteilungen gebildet wurden, nämlich eine sehr breite und geräumige in der Mitte und zwei schmalere rechts und links von ihr. In der großen Mittelabteilung war die Dschema versammelt. Die Seitenabteilungen enthielten die Plätze für das Publikum; sie waren natürlich leer.
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