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25 - Ardistan und Dschinnistan II

25 - Ardistan und Dschinnistan II

Titel: 25 - Ardistan und Dschinnistan II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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dies sprach, sah ich, daß er in sich zusammenschauerte. Auch ich hatte das Gefühl, als ob ein kalter Hauch langsam durch meinen ganzen Körper streiche. Diese Empfindung war es, die mich antworten ließ:
    „Dieser Traum wird aber kein Traum sein, sondern Wirklichkeit!“
    „Meinst du?“
    „Ja, gewiß!“
    „Vielleicht schlafe ich doch wirklich ein und träume es dann nur!“
    „Wohl nicht! Bedenke, daß wir die Richter sein sollen!“
    „Es ist gemeint, daß ich das träumen werde!“
    „Das bezweifle ich sehr! Ich sehe hier auf allen Plätzen beschriebene Zettel liegen. Brennen wir Kerzen an, um lesen zu können!“
    Als genug Lichter brannten, ging der Mir zum Platz des Vorsitzenden und las, was auf dem dort liegenden Zettel stand:
    „Abu Schalem, der Maha-Lama.“
    Wieder standen wir da und schauten einander an, bis der Mir sich äußerte:
    „Ist das nicht sonderbar? Ein Toter soll den Vorsitz über Lebende führen! Wie soll die Leiche, die sich da drüben im großen Saal befindet, hierher auf seinen Sitz gelangen? Doch weiter; lesen wir weiter!“
    Die Zettel bestanden aus dunklem Papier und waren hell, wie mit weißem Kreidestift, beschrieben. Der Mir ging da, wo die Richter sitzen sollten, von Platz zu Platz und las nacheinander folgende Namen:
    „Der Dschirbani, Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar, Prinz Sadik der Tschoban, die beiden Prinzen der Ussul, der Scheik der Tschoban, der Schech el Beled von El Hadd.“
    Das waren also acht Gerichtsbeisitzer, von denen aber die beiden letzten fehlten. Wie sollte der abwesende Scheik der Tschoban und der ebensowenig vorhandene Gebieter von El Hadd hierher nach diesem Ort, den niemand kannte, kommen? Aber der Mir ließ uns keine Zeit, uns mit dieser Frage zu beschäftigen. Er ging zu den drei Sitzen der Angeklagten, nahm die dort liegenden Zettel auf und las:
    „Schedid el Ghalabi, der Mir von Ardistan – sein Vater – der Vater seines Vaters.“
    Die Zettel lagen so, daß der Mir in der Mitte, sein Vater ihm zur Linken und sein Großvater ihm zur Rechten sitzen sollte. Er machte eine schaudernde Bewegung als ob ihn ein Frost überlaufe, legte die drei Zettel wieder hin und sagte halblaut, wie zu sich selbst:
    „Zwischen zwei Leichen! Und grad zwischen diesen beiden!“
    „Genau um Mitternacht!“ fügte Halef hinzu, der jetzt zum ersten Mal das Wort ergriff.
    „Ob Mitternacht oder Mittag das ist gleich!“ wies der Mir ihn zurecht. „Es sind alles Stunden Gottes. Wenn ich am Mittag schuldig befunden werde, steht es ebenso schlimm um mich, wie wenn die Richter mich des Nachts verurteilen. Und die Kerzen müssen hier gebrannt werden, ganz gleich, ob es draußen im Freien hell oder dunkel ist. Doch sehen wir weiter! Da drüben sind noch zwei Plätze!“
    Seitwärts von dem Halbkreis der Beisitzer standen zwei halbniedrige, orientalische Stühle, die mehr zum Ruhen als zum Aufrechtsitzen eingerichtet und mit weichen Decken belegt waren. Auch auf ihnen lagen Zettel. Der Mir nahm sie und las:
    „Abd el Fadl, der Fürst von Halihm, als Verteidiger. Merhameh, Prinzessin von Halihm, als Verteidigerin.“
    Da standen wir nun zum dritten Mal und schauten uns still an. Jetzt sagte selbst der Mir nichts mehr. Er legte die Zettel wieder an ihre Stelle, ging von Kandelaber zu Kandelaber, um die Lichter auszublasen und schritt dann nach dem Nebenzimmer, um von diesem aus hinaus in das Freie zu kommen. Wir folgten ihm. Als wir draußen waren, fragte er:
    „Noch ist es nicht Abend. Wollt ihr eure Untersuchung fortsetzen?“
    „Ja“, antwortete ich. „Wir müssen unbedingt heut fertig werden, um morgen für alles, was da kommen kann, frei zu sein.“
    „Du glaubst für morgen an Ereignisse?“
    „Ja.“
    „Auch an die ‚Dschema der Lebenden‘?“
    „Unbedingt!“
    „Auch an das Erscheinen von Abd el Fadl und Merhameh? An das Eintreffen des Scheiks der Tschoban und des Scheik el Beled von El Hadd?“
    „Ich bin beinahe überzeugt, daß sie alle kommen.“
    Da holte er tief, tief Atem und stimmte bei:
    „Ich auch, ich auch! Es ist mir hier ganz unaussprechlich zumute. Fast möchte ich sagen: Wir leben hier nicht, sondern wir werden gelebt; wir denken hier nicht, sondern wir werden gedacht; wir wollen nicht, sondern wir werden gewollt. Es ist, als stehe hier jemand hoch über uns, der uns am Zügel hat, wie der Reiter das gehorsame Pferd.“
    „Glaubst du, daß es wirklich so ist? Oder nur, daß es so scheint? Ich sage dir, das hier nichts scheint,

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