25 - Ardistan und Dschinnistan II
ich, daß ich nicht ein junges Mädchen, sondern eine Frau vor mir hatte, die gewiß schon über vierzig Jahre zählte. Ihre Gestalt war hoch, wie die einer Ussula, ihre Haltung aufrecht, ihr Gang stolz, trotz aller Vorsicht, leise aufzutreten.
Nach einigen weiteren Schritten blieb sie stehen und blies das Licht aus. Nun stand sie also im Dunkeln. Aber sie lauschte. Sie wollte hören, was der Mir sprach. Und indem sie ihrem Ohr die betreffende Richtung gab, hob sie den Kopf ein wenig mehr in die Höhe und hielt ihn so, daß er, halb Profil und halb Face, von dem Licht der Kandelaber getroffen und übergossen wurde. Das war ganz genau dieselbe Stellung welche das Gesicht des Dschirbani eingenommen hatte, als ich kurz vor dem Abendessen seine Schönheit und seelische Ausdrucksfähigkeit bewunderte. Und, sonderbar, es war, als ob ich jetzt, hier, genau dasselbe Gesicht vor mir habe, nur nicht in männlicher, sondern in weiblicher Ausgabe, und nicht auf innere Askese deutend, sondern mit den Zügen und den großen, ernsten, aufnahmefähigen Augen einer Seherin. Ja, es gab da gar keinen Zweifel; das war das Gesicht des Dschirbani. Ich dachte sofort an seine Mutter. Das Alter stimmte, auch die Gestalt und die unbewußt-selbstbewußte Art, sich zu bewegen. Körperlich von den Ussul, doch geistig und seelisch aus Dschinnistan stammend, so stand sie hochaufgerichtet vor mir, ihre ganze Aufmerksamkeit dorthin gerichtet, wo ein Lebender zu längst Verstorbenen sprach, als ob sie ihn hören, ihn verstehen und ihm antworten könnten. Aber es war unmöglich, da, wo sie stand, aus dem Klangschwall, der zu uns herüberflutete, die einzelnen Worte und Sätze herauszulesen; darum setzte die weiße, geheimnisvolle Frau nun ihre Schritte weiter, um sich dem Mir so leise und so langsam, wie sie gekommen war, zu nähern.
Da richtete ich mich auf. Es war ja möglich, daß sie den Rückweg wieder hier vorübernahm; da sollte sie mich nicht sehen. Ich mußte mich also entfernen. Ich nahm mir vor, sie womöglich nicht aus den Augen zu lassen und folgte ihr so vorsichtig, wie ich nur konnte.
Sie ging weiter und immer weiter, zuweilen stehenbleibend, um zu prüfen, ob das, was sie hörte, jetzt nun deutlicher sei, dann aber immer wieder vorwärtsschreitend, bis sie die Stelle erreichte, wo die Stufen begannen, die auf die Erhöhung führten, auf welcher Abu Schalem, der oberste Richter, saß. Sie hatte da eine der großen, starken Säulen erreicht, auf denen die hohe Decke ruhte, und blieb hinter ihr stehen. Ihrer Haltung war anzusehen, daß sie nun deutlich verstand, was sie hörte. Ich ging noch so weit, bis ich die gleiche Linie mit ihr und dem Mir erreichte; dann setzte ich mich nieder, um nicht vom Licht getroffen zu werden, sondern unbemerkt das Kommende abzuwarten. Es kam sehr schnell, viel schneller, viel kürzer und ganz anders, als ich dachte.
Noch immer ertönte die Stimme des Mir. Noch immer las er vor, und noch immer warf er in Zwischensätzen ein, was ihm sein Inneres befahl, zu dem, was er las, zu sagen. Noch immer richtete er alles, was er las und sagte, an die Richter. Die weiße Frau hinter der Säule verstand gar wohl jedes seiner Worte, leider ich aber nicht. Die Entfernung zwischen ihm und mir war zu groß. Da sah ich, daß er das Buch, welches er in den Händen hielt, zuschlug, mit einer energischen Gebärde hinter sich warf und eine Aufforderung an die Toten richtete, die auch ich verstehen konnte, weil er sich dabei ein wenig mehr nach mir wandte und in gewichtiger Betonung alle seine Worte derart voneinander trennte, daß die Luftwellen sie nicht mehr verwirren konnten:
„Meine Seele ist voller Angst und Jammer. Sie sprach zu euch nicht wie zu Toten, sondern wie zu Lebenden. Sie nahm an, daß auch ihr einst Seelen besaßet und daß ihr sie nicht verloren habt, sondern daß sie zu euch niedersteigen und anwesend sind, sooft ihr euch für berufen und für würdig haltet, über so ungeheuer großes Unrecht Recht zu sprechen. Ich habe euch meine Bedrängnis, meine Qual, meine Not geschildert. Ich habe euch meine Fragen vorgelegt. Eure Zungen stehen still; der Tod hat sie gelähmt. Von euch, den leblosen Körpern, kann ich keine Auskunft erwarten. Aber von euren Seelen verlange ich Antwort. Ich fordere diese Antwort von ihnen, bei allem, was ihnen einst heilig war und jetzt noch heilig ist. Ich verlange sie von ihnen, jetzt, hier, auf der Stelle, auf der ich stehe! Ich kann nicht warten, denn schon in der nächsten
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