25 - Ardistan und Dschinnistan II
Mitternacht wird die Entscheidung fallen, über mich und auch über euch! Ja, auch über euch! Nicht nur die Angeklagten, sondern auch die Richter werden gerichtet; das versichere ich euch!“
Er machte eine Pause, um seinen letzten Worten doppelten Nachdruck zu geben. Er war außerordentlich erregt. Er zitterte, und seine Stimme zitterte noch mehr, als er selbst. Er fuhr fort:
„So mögen denn eure Seelen zu der meinen sprechen. Sie ist in mir. Sie wartet. Ich stehe euch offen und bin bereit, zu hören!“
Er legte die Hände ineinander, senkte den Kopf und stand so lange, lange Zeit. Zuweilen trennte er die Hände und hob sie empor, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Ich stand fern von ihm und sah dennoch, wie seine Brust sich hob und senkte. Das täuschte mir vor, daß mir auch sein Atem, der in schweren, angstvollen Stößen ging, hörbar sei. Es gab irgend etwas, was in ihm kämpfte, um sich loszuringen, um frei zu werden. Ich mußte da an seinen Wunsch denken, den er gegen Abend ausgesprochen hatte: „Oh, wenn ich beten könnte, beten, beten! Ich gäbe viel darum, sehr viel!“ Da endlich schleuderte er die Arme, als ob er etwas wegwerfe, von sich aus und rief:
„Ich höre nichts! Kein Wort, kein einziges! Auch keine einzige Silbe! Weder von außen noch von innen! Wo sind die Seelen, die zu mir reden sollen? Wollen sie nicht? Oder können sie nicht? Oder sind und waren sie überhaupt gar nicht vorhanden? Was soll ich tun? An wen soll ich mich wenden? Wer ist es, der mir helfen kann und will?“
Er schaute sich nach rechts und links, nach allen Seiten um, als ob er eine Antwort, wirklich eine Antwort erwarte. Und da klang ein Ton, fast so leise wie ein Hauch und doch im ganzen, weiten Raum zu hören, wie von hoch oben herab:
„Bete!“
Er zuckte zusammen. Er sah sich um, scheu, aber doch mit froher werdendem Angesicht.
„Beten?“ frage er. „Beten? Ich habe es gehört! Ganz deutlich gehört! Wer hat es gesagt? Wer? War es außer mir – war es in mir selbst? War es eine der Seelen, welche bisher schwiegen? Und kann ich es denn? Kann ich, und darf ich, ich, der Ungläubige, der Verbrecher, der, sobald er vor Gott zu treten wagt, nicht nur seine eigenen, sondern die Sünden seines ganzen Geschlechtes mitzubringen hat, um sie der Gnade und der Vergebung hinzuwerfen und –“
Indem er die Bewegung des Hinwurfes machte, sank er auf die Knie nieder und sprach weiter, ohne sich wieder aufzurichten. Aber er sprach nicht laut, wie bisher, sondern leise, unhörbar – er betete!
Ich wandte den Blick von ihm ab und faltete die Hände. Die Stelle, an der er kniete, war jetzt eine heilige. Mein profaner, kritischer Blick hatte nicht das Recht, in dieses Heiligtum zu dringen. Ich schaute auf die weiße Gestalt der Frau, die sich weiter und immer weiter vorgebogen hatte, um sich ja kein einziges seiner Worte entgehen zu lassen. Sie hielt ihre Hände erhoben, doch auch gefaltet. Sie war sichtlich bewegt, sehr tief bewegt. Sie trat nun ganz hinter dem Pfeiler hervor. Sie tat einen Schritt vorwärts, noch einen. Nun stand sie vor der untersten Stufe und blieb dort wartend stehen. Auch ich blieb nicht sitzen; ich mußte mich unwillkürlich erheben. Ich schlich mich näher hin, um das Gesicht des Mir deutlicher zu sehen. Schon betete er nicht mehr leise, sondern halblaut. Er war so ganz und gar von seinen Gedanken und Empfindungen hinweggerissen, daß er begann, sie in hörbare Worte zu kleiden. Gegen den Schluß seines Gebetes hin wurde er lauter und immer lauter, bis er, sich aus der knienden Stellung erhebend, ausrief:
„Und nun wende ich mich nicht mehr an die Erde, an die Toten und an die Seelen der Abgeschiedenen, sondern ich hebe meine Zuversicht empor zum Himmel, zum unendlichen, ewigen Leben, zum nirgends abwesenden, sondern stets allgegenwärtigen Geist, zu dem ich jetzt gebetet habe und der mir in meinem Innern antworten wird, wenn ich frage: Ist das Vermessenheit, was ich beschlossen habe? Ist es verboten, so zu –“
Er hielt mitten im Satz inne und wich überrascht oder wohl gar erschrocken einige Schritte zurück. Sein Blick war auf die weiße Gestalt gefallen, die ihren Fuß jetzt auf die erste Stufe setzte, um langsam emporzusteigen. Oben angekommen trat sie auf die Seite Abu Schalems, legte die Hand auf das vor ihm aufgeschlagene große Schuldbuch und sagte mit klarer, tieftönender Stimme:
„Dieses Buch wird von nächster Mitternacht an für immer geschlossen sein, wenn du
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