25 - Ardistan und Dschinnistan II
Lebenden‘ und der ‚Dschema der Toten‘, von Abu Schalem, dem ‚berühmtesten, gerechtesten und gütigsten aller Maha-Lamas‘, von –“
„Das alles, alles hast du gewußt und mir doch niemals etwas davon gesagt?“ unterbrach ich ihn.
„Gewußt?“ lächelte er. „Wäre dies der Fall, so hätte ich dir längst davon erzählt. Es lag verborgen in mir, vollständig unbewußt. Erst hier kam es emporgestiegen, ganz langsam und unbemerkt, bis es heut plötzlich aus mir heraustrat, sich vor mich hinstellte und zu mir sagte: ‚Da bin ich; du hattest mich vergessen, vollständig vergessen; kennst du mich noch?‘ Sag mir, Ssahib, ist das nicht sonderbar?“
„Sonderbar? O nein. Ich finde es vielmehr in hohem Grade natürlich. Bitte, verhalte auch du dich natürlich. Laß diesen Kindheitsbildern Zeit, langsam in dir und aus dir emporzusteigen. Zwinge sie nicht! Tue ihnen ja nicht Gewalt an; du würdest sie zerstören. Was die Seele besitzt, das gibt sie freiwillig; rauben läßt sie sich nichts. Also, beraube dich ja nicht selbst!“
Hörte er, was ich sagte? Er hatte den Kopf erhoben und sah still empor, dem West entgegen, wo die Sonne soeben im Untergehen war. Wir konnten ihr Scheiden zwar nicht sehen, aber das Stück des Himmels, welches über uns lag begann sich wie die zarte Wange einer errötenden Jungfrau zu färben, und diese Röte schien sich auf dem Gesicht des Dschirbani zu spiegeln. Wie es sich seit kurzem verändert hatte, dieses Gesicht! Und wie auch seine Gestalt, seine Bewegungen sich ganz anders zeigten als früher! Wenn ich sein von der Seele vollständig durchdrungenes Äußere kurz, bündig und treffend beschreiben wollte, müßte ich sagen: Ein hoch und herrlich gewachsener, männlich schöner, jugendlicher Asket vor Beginn der Askese. So, wie ich sein Gesicht jetzt sah, hatte ich es noch nie gesehen. Ich fühlte, daß seine Züge immer tiefer in mich drangen, um sich mir für immer einzuprägen, damit ich sie nie und nie vergessen möge. Während er so in die Ferne schaute, um in sich selbst hineinzusehen und hineinzulauschen, ließ er mich endlich eine Antwort hören:
„Ich weiß, was du meinst, und ich selbst halte mich bereits in Zucht, damit ich nichts zerstöre. Soeben war es mir, als ob ich meinen Vater, wie so oft in vergangener Zeit, beim ‚königlichen Spiel‘ des Schachs sitzen sehe. Er behauptete stets, das Schach sei eine Lüge und als Bild des Krieges gänzlich zu verwerfen. Im Schach sei man gezwungen, Soldaten, Bauern, Läufer, Türme und noch viel Höheres zu opfern, um den Sieg zu gewinnen. Am Schluß des Spiels aber seien beide Felder verwüstet, nicht nur das des Besiegten, sondern auch das des angeblichen Siegers. Die Kriegführung von Gewaltmenschen gleiche noch heut diesem alten Spiel, welches plötzlich stehengeblieben und nicht weiterentwickelt worden sei. Der Edelmensch aber, den wir alle erwarten, werde jeden Krieg, zu dem die Gewalt ihn zwingt, derart führen, daß ihm der Sieg kein einziges Opfer kostet.“
„Das hast du als Kind gehört?“ fragte ich vorsichtig.
„Nein. Da war ich schon Knabe und spielte schon selbst Schach. Mutter erzählte es und wiederholte es so oft, daß es sich mir fest einprägte und ich darüber nachzudenken begann. Die Aufgabe, zu siegen, ohne Opfer zu bringen, ist eine der wichtigsten des ganzen Lebens, nicht nur in militärischer, sondern auch in jeder andern Beziehung. Ich sann und dachte sehr viel darüber nach, doch vergeblich. Da kamst du mit Hadschi Halef. Ihr beide zeigtet uns am Engpaß Chatar, wo ihr die Tschoban besiegtet, ohne daß ein einziger Tropfen Blut zu fließen brauchte, was mein Vater mit seiner Verurteilung des Schachspiels gemeint hatte. Seit jenem Tag ist es mein Bestreben diese seine und eure Lehre in Taten umzusetzen und –“
Er wurde unterbrochen. Halef rief zum Abendessen. Zu gleicher Zeit kam der Mir vom Engelsbrunnen her, in dessen Innern er Einsamkeit gesucht und gefunden hatte, und gesellte sich zu uns. Wir beeilten uns also, dem kleinen Hadschi gehorsam zu sein, der leicht zornig werden konnte, wenn man seinen Zubereitungen nicht die Achtung schenkte, die ihnen nach seiner Ansicht gebührte.
Während des Essens stellte sich der Abend ein. Wir waren den ganzen Tag über stets auf den Beinen gewesen und also redlich ermüdet. Es wollte sich kein rechtes Abendgespräch entwickeln, zumal der Mir sich ebensowenig wie ich darum bemühte, eine Unterhaltung herbeizuführen. Wir hatten heute
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