25 - Ardistan und Dschinnistan II
zwar viel gesehen und viel erfahren, was unbedingt besprochen werden mußte, doch aber nicht gleich, so ganz auf Knall und Fall. Solche Dinge müssen erst innerlich geprüft und betrachtet werden, ehe man es unternehmen darf, sie wie alltägliche Geschehnisse in gewöhnliche Worte zu fassen. Darum wurden heute sehr zeitig die Lager zubereitet. Der Mir schlug das seine ziemlich weit von den andern auf, und ich gesellte mich zu ihm, damit es später nicht auffallen möge, wenn wir uns miteinander entfernten. Als wir nach einem Stündchen annehmen konnten, daß die Gefährten alle schliefen, nahmen wir unsere Decken und begaben uns nach dem Saal der ‚Dschema der Toten‘.
Dieser Saal lag von unserem Lagerort so weit entfernt, daß die Schläfer durch das Rollen des Türquaders nicht aufgeweckt werden konnten. Im Innern herrschte tiefste Dunkelheit. Wir brannten so viele Kerzen an, wie der Mir zu seinem Vorhaben brauchte. Dann ging er an das grauenhafte Werk, in das Fegefeuer dieses ungewöhnlichen Ortes hinabzusteigen und die Schuldbücher seiner Ahnen zu studieren. Ich aber bereitete mir im linksseitigen Zuhörerraum auf einigen Sitzen mit Hilfe meiner Decke ein leidlich bequemes Lager.
Das Licht der Kandelaber drang nicht zu mir. Ich lag in völliger Finsternis. Die unbeweglichen Gestalten der Dschema waren durch die eigenartige Lichtwirkung wie in weite Ferne gerückt. Das täuschte mein Auge; es vervielfachte ihre Größe. Sie erschienen mir gigantisch. Es war mir, als ob ich aus unserer Welt der Dunkelheit in ein überirdisches Dasein schaue, dessen Geheimnisse soeben begonnen hatten, sichtbar zu werden. Wenn ich wirklich schlafen wollte, mußte ich dergleichen Phantasmen von mir abwehren. Ich wendete mich also auf die andere Seite, legte mich nieder und schloß die Augen. Ich glaube, daß ich dann auch sofort eingeschlafen bin, wenigstens bin ich mir nicht bewußt, auch nur noch eine Minute wach geblieben zu sein. Auch wie lange ich geschlafen habe, ehe ich aufgeweckt wurde, weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, daß ich nicht von selbst erwachte, sondern von einer lauten Stimme aus dem Schlaf gerufen wurde.
Es war die Stimme des Mir. Anfangs hatte er bei Abu Schalem gestanden und mit dem Hauptbuch begonnen. Jetzt stand er unten bei seinen Vorfahren, hatte eines ihrer Konti in der Hand und las, gegen die Richter gewendet, aus demselben vor. Er stand leider so, daß ich die Worte nicht verstehen konnte, deren Schall zur jenseitigen Höhe stieg und, von dort zurückkehrend, sich selbst verschlang. Er schien die Wirklichkeit vergessen und sich vollständig in die Fiktion hineingelesen und hineingedacht zu haben. Er nahm die Toten für Lebendige. Er las ihnen laut vor; er sprach dazwischen zu ihnen; er erläuterte und erklärte; er gestikulierte wie ein Angeklagter oder wie ein Verteidiger, bei dem alles auf dem Spiele steht, was er ist und was er hat. Es kam mir keinen einzigen Augenblick bei, dieses sein Gebaren für phantastisch oder gar für unsinnig zu halten, denn ich konnte zwar nichts genau verstehen, aber doch jedem seiner Worte anhören, das alles, was er sagte, der tiefsten Seelenqual und Herzensnot entsprang. Und – doch halt! Was war das?
In der geraden Richtung meines Lagers, aber dort im äußersten Winkel und in der äußersten Finsternis, tauchte jetzt ein kleines, winziges, wehendes Flämmchen auf, welches sich mir langsam näherte. Es kam jemand, ganz leise, leise. Wer war es? Ich sah etwas Weißes. Je geringer die Entfernung zwischen mir und diesem Lichtchen wurde, desto deutlicher zeigte sich die Gestalt des Trägers oder vielmehr der Trägerin, denn sie war eine weibliche. Sie trug ein weißes, weites, bis auf den Boden niederreichendes Gewand mit langen, weiten Ärmeln. Es schloß sich eng an den Hals. Gesicht und Kopf waren unbedeckt. Das Haar bildete einen Kranz von dunklen, anspruchslos geordneten Flechten. Dieses Wesen schien den Saal genau zu kennen, denn es achtete nicht darauf, wohin es seine Schritte setzte, sondern es hielt das Gesicht nach der Seite gewendet und den Blick im Vorwärtsschreiten nach dem Mir gerichtet. Darum sah es mich nicht, als es mich erreichte. Freilich kam es nicht direkt an mir vorüber, sondern in einer Entfernung von vielleicht zehn Schritten. Dennoch drückte ich mich so eng und klein wie möglich zusammen, um ja nicht bemerkt zu werden. Dabei achtete ich scharf auf das Gesicht. Ich sah es nicht genau, weil es halb von mir abgewendet war, doch erkannte
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