25 Stunden
in einem Dorf im Nordiran. Helena, eine Moskowiterin, ist überzeugt, dass er einen afghanischen Akzent hat.
Sämtliche Frauen sind aus Osteuropa eingewandert, wie auch fast ihre gesamte Kundschaft. Um die Einreise hat sich Mrs. Dimitriev gekümmert, der das Haus gehört und die ganz oben ein separates Apartment bewohnt, wo sie den ganzen Tag Billie Holiday hört und über ihren Computer mit Aktien handelt und nur nach unten kommt, wenn es Streit wegen der Bezahlung gibt.
Die Frauen erscheinen am frühen Abend und gehen in den frühen Morgenstunden. Die meisten arbeiten ein oder zwei Jahre hier, bis sie ihre Schulden bei Mrs. Dimitriev bezahlen können, die so geizig ist, dass sie nur die Schlafzimmer heizt. Also machen die Frauen Riesenfeuer und trinken literweise heißen Tee und reden. Nicht über die Arbeit, normalerweise - die meisten Freier sind Langweiler, sogar die fiesen. Uncle Blue ist die Ausnahme, ein Rätsel. Die Frauen können sich nur dessen sicher sein, was sie sehen, also versuchen sie ihre Theorien um die physische Erscheinung herum zu konstruieren. Jung ist er nicht, aber das dichte Kopfhaar und der Bart sind immer noch schwarz. Vielleicht ist es der Bart, der Helena an die islamischen Soldaten im Fernsehen ihrer Kindheit erinnert, an diese finsteren Kerle mit ihren AK-47em und den gekreuzten Munitionsgurten über der Brust.
Die Haut unter Uncle Blues Augen ist dunkel von Erschöpfung, die Falten auf seiner Stirn sind tief wie Messerschnitte. Seine Handflächen sind grob und schwielig, als habe er Jahre lang eine Schaufel oder Spitzhacke geschwungen, aber seine Fingernägel sind makellos, fachmännisch getrimmt und poliert. Einmal hat Natasha, den Blick ins Feuer gerichtet, das Kinn hochgereckt, verkündet, Uncle Blue habe vor zwanzig Jahren einen Mann erschlagen, wegen einer Frau. Sie hat natürlich gelogen — wenn Uncle Blue einen Mann erschlagen hätte, dann hätte er niemals Natasha oder sonst jemandem gegenüber damit geprahlt. Trotzdem zieht niemand Natashas Geschichte in Zweifel. Immerhin hat er die Hände eines Boxers, mit diesen seitwärts gedrehten Fingerspitzen und den verdickten Knöcheln. Seine Handgelenke sind so dick wie Natashas Fußknöchel.
Natasha sollte ihn am besten kennen, aber weit gefehlt; sie stellt ihm keine Fragen. Nicht dass er nicht antworten würde oder dass er ihr zu sprechen verböte - er stellt keine Regeln auf und sagt auch nie ein grobes Wort. Uncle Blue ist gepflegt, höflich und großzügig. Er bezahlt mit Hundertdollarscheinen, die er aus einem silbernen Geldclip zieht; die Scheine immer wie frisch gedruckt, der Clip immer voll. Als er heute Abend das Haus betritt, steht sie leise von ihrer Bank am Feuer auf und geht die Stufen zum größten Schlafzimmer hinauf. Draußen Winter, die Gerippe der Bäume vom Prospect Park, die Straßenlaternen von gelben Auren gekrönt. Auf dem Fensterbrett stirbt leise summend eine Fliege. Als sie fertig sind, sitzt Uncle Blue mit nacktem Oberkörper am Fußende des Bettes, die Arme vor den Knien verschränkt, den langen schwarzen Bart auf der Brust. Er bleibt einen Augenblick so sitzen, dann zieht er sich an. Natasha fragt sich, ob er verheiratet ist, Kinder hat; sie fragt sich, warum er nie etwas über sie erfahren möchte. Ihre anderen Stammkunden löchern sie ständig, sie sehen sich gern als weiße Ritter und Natasha als entehrte Maid, die es zu retten gilt. Uncle Blue will nicht wissen, was sie treibt, wenn er nicht da ist; er will nicht wissen, wie sie zu diesem Beruf gekommen ist, ob sie nachts weint, ob sie sich nach einem ruhigen Familienleben in der Vorstadt sehnt. Er hat nur ein einziges verzwicktes Problem im Kopf; seine sämtlichen Gedanken sind damit beschäftigt, es zu lösen. Jedweder Fehler wird auf Ärger hinauslaufen, und Uncle Blue hat zu schwer und zu lange gearbeitet, um irgendwelchen selbsterzeugten Ärger zu dulden. Die Dummheiten und Betrügereien anderer Leute lassen sich nicht aus der Welt schaffen; das ist das grundlegende Problem, dem sich jeder große Geschäftsmann stellen muss. In dieser Jauchegrube von Welt versucht ein Realist nur, den Schaden zu begrenzen. Heute Nacht wird Uncle Blue jemanden umbringen. Er kann es sich nicht leisten, irgendwelche Fehler zu machen.
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Jakob ist einer der geschicktesten Fußgänger, die New York City je gesehen hat. Er kurvt durch die Menschenmenge, weicht den Fäusten und Ellbogen der entgegenkommenden Passanten aus, duckt sich unter Ästen hindurch,
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