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25 Stunden

25 Stunden

Titel: 25 Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Benioff
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Himmel, 14* Street! Er schlüpft durch die Türen, als sie sich gerade schließen, und folgt der Herde durch die Drehkreuze und die Treppen hinauf.
    Draußen ist es in den fünfzehn Minuten, die er unter der Erde zugebracht hat, merklich kälter geworden; die Kälte hilft ihm, wieder nüchtern zu werden. Als er Slatterys Haus erreicht hat, fängt es zu schneien an, dicke Flocken taumeln durch das Licht der Laternen und schmelzen auf dem Gehweg. Der bleibt nicht liegen, denkt Jakob und ist enttäuscht wie ein Schuljunge.
    Er meldet sich bei einem Pförtner, der hinter einer marmornen Tischplatte sitzt, einem schmallippigen, rothaarigen jungen Burschen mit unzähligen Sommersprossen, dem die epaulettengeschmückte Uniform zu groß ist. Der Pförtner greift zum Hörer der Gegensprechanlage und klingelt bei Slattery.
    »Jakob ist da«, sagt er, dann: »Keine Ahnung, ich frag mal.« Er sieht zu Jakob hinauf. »Jakob wer?«
    »Ha-ha. Sagen Sie ihm: Ha-ha.«
    Der Pförtner grinst und spricht in den Hörer. »Haben Sie gehört? Gut, alles klar.« Er legt auf und zeigt zum Fahrstuhl. »Vierter Stock.«
    »Weiß ich.«
    Eine alte Dame steht gebeugt und erbärmlich in einer Ecke der verspiegelten Eingangshalle und starrt auf eine eingetopfte chinesische Kautschukpflanze hinab. Neben ihr wartet eine Pflegerin. Jakob geht rasch zum Fahrstuhl und drückt den Knopf.
    »Kommen Sie, Charlotte«, sagte die Pflegerin mit einem leiernden karibischen Akzent. Sie ertappt Jakob dabei, wie er einen verstohlenen Blick nach hinten wirft, und blinzelt ihm zu. »Kommen Sie, Mädchen.«
    »Ich muss mich hinsetzen«, greint Charlotte.
    »Wir sind in der Eingangshalle. Kommen Sie. Sie können sich in der Wohnung hinsetzen. Stundenlang können Sie da sitzen. Auf geht7s.«
    Jakob unterdrückt ein Niesen, und die alte Frau wendet den Kopf. »Louis?«, ruft sie mit zusammengekniffenen Augen. »Louis?«
    Ich bin nicht Louis, denkt Jakob und sucht in seiner Gesäßtasche nach einem Taschentuch. Charlotte lässt sich gegen die Wand plumpsen und zu Boden sinken, die Vogelbeine gespreizt. »Ich geh keinen Schritt mehr. Wo ist Louis?«
    »Das ist nicht Louis«, erklärt die Pflegerin ihr und lächelt Jakob zu.
    Jakob möchte nicht alt werden, möchte nicht wie Charlotte werden, hutzelig und hilflos, in der Ecke einer verspiegelten Eingangshalle zusammengesackt.
    »Kann ich helfen?«, fragt er schließlich voller Angst, die Pflegerin könnte Ja sagen.
    »Sehr nett von Ihnen«, sagt die Pflegerin. Jakob interpretiert das als ein Nein. Die elektrische Anzeige des Fahrstuhls zeigt unverändert eine 4. Jakob rückt seine Yankees-Mütze zurecht.
    »Ich hab dir gesagt, dass sie nichts taugt«, sagt Charlotte. »Ich hab's dir gesagt, Louis.«
    »Das ist nicht Louis«, erklärt die Pflegerin. »Das ist nicht Ihr Sohn. Jetzt kommen Sie und stehen Sie auf, Mädchen, sonst verpassen wir unsere Sendung.«
    Jakob drückt den Knopf noch zweimal. Normalerweise verdreht er die Augen, wenn jemand immer wieder den Fahrstuhlknopf drückt, als wäre diese Maschine bloß faul, als müsse sie zur Arbeit genötigt werden wie irgendein aufsässiger Ober: Schon gut, schon gut, der Ketchup, ich komm ja schon. Jakob verpasst dem Knopf eine mit der Faust.
    »Ich hab dich gewarnt«, murmelt Charlotte.
    Endlich ist der Fahrstuhl da, und Jakob geht hinein. Er steht jetzt mit dem Gesicht zu Charlotte; er kann es nicht vermeiden, ihren auf die Brust gesunkenen Kopf zu sehen, ihren ganzen zusammengeschrumpelten Körper zucken zu sehen. »Evie!«, schreit sie plötzlich. »Evie!«
    »Pst, Mädchen, hier bin ich doch. Kommen Sie, geben Sie mir die Hand.«
    Jakob hält den Finger vor die Lichtschranke, und die sich schließenden Türen gehen mit einem Ruck wieder auf. »Hallo, Entschuldigung, sind Sie sicher, dass Sie zurechtkommen da drüben?«
    Evie sieht ihn über die Schulter hinweg an. »Sicher sind wir sicher. Wir machen das jeden Abend.«
    »Louis?«
    Für eine Sekunde wünscht sich Jakob, er wäre Louis, wünscht sich, er könnte sagen: Hier bin ich, Mom, um dann die Halle zu durchqueren und der alten Dame hochzuhelfen. Das wäre heldenhaft. Die Fahrstuhltüren schließen sich, und Jakob macht die Augen zu. Nun geht es durch die Decken des Gebäudes nach oben. Er stellt sich vor, er wäre ein Eimer Wasser, der einen Brunnen hochgezogen wird. Auf einmal merkt er, wie müde er ist; er hat seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen. Und Monty? Kann Monty überhaupt schlafen?
    Slatterys

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