25 Stunden
balanciert den Bordstein entlang, über Dutzende von Hundehaufen hinweg, wartet auf eine Lücke und springt dann in den freien Raum. Wie jeder anständige Großstädter hat Jakob gelernt, die Freaks nicht mehr wahrzunehmen: die amputierten Schnorrer, die gelähmten Penner auf der Kirchentreppe, die gestörten Randfiguren mit dem Arm im Mülleimer.
Er schlängelt sich durch den wimmelnden Mob vor dem U-Bahnhof 72nd Street. Durch das Drehkreuz, die Treppen hinunter und das freieste Stück Bahnsteig gesucht; als die U- Bahn kommt, drängt Jakob sich in einen der überfüllten Wagen, schnappt sich einen Halteriemen und hält sich fest, dann fährt der Zug wieder an. Jakob verträgt so gut wie gar keinen Alkohol. Zwei Bier hat er mit LoBianco getrunken und ist völlig desorientiert; zwischen Geist und Körper ist ein verschwommener Keil getrieben. Er stellt sich vor, wie er irgendwo hockt, also wirklich er, und diesen spastischen Jakob zu dirigieren versucht. Was ist das bloß für ein Körper?, denkt er. Und warum haben sie den ausgerechnet mir angedreht?
Manchmal wacht er morgens auf, und das Gesicht im Badezimmerspiegel kommt ihm fremd und ungefällig vor. Dann starrt er dieses müde Gesicht blinzelnd an wie jemand, der sich auf einem Klassentreffen der High School zu erinnern versucht. Wie heißt dieser Mitschüler bloß, den er vage mit frustrierten Zeiten verbindet? Jakob kann den Körper nicht leiden, den er hat, aber es ist mehr als das; er hat das Gefühl, eigentlich nicht zu diesem Körper zu gehören. Da ist ganz zu Anfang ein Fehler gemacht worden; sie haben sein Gehirn in den falschen Körper eingebaut; der eigentliche Jakob sitzt irgendwo nackt und reglos in der Ecke oder darf den Befehlen irgendeines Invasorengeistes gehorchen.
Er zieht sich die Yankees-Mütze tiefer, liest die über den Sitzen angebrachte Werbung. Bei der einen handelt es sich um einen Comicstrip, eine Fortsetzungsgeschichte in Sachen Aids um eine Gruppe von New Yorkern. Dieser Strip ist in Spanisch, das Jakob nicht beherrscht, aber er erkennt, dass die Helden sich auf einem Friedhof befinden, anscheinend auf dem Begräbnis ihres Freundes Rafael. Die eine Frau weint bittere Tränen. Irgendjemand hat ihr Riesennippel auf die Bluse gemalt, und Jakob macht ein finsteres Gesicht ob dieser Unschicklichkeit.
Der Zug hält in Columbus Circle, und Jakob fällt ein, was ihm auf diesem Bahnhof immer einfällt, der Tag vor neun Jahren, als Monty einer Mutprobe wegen auf die Gleise gesprungen und den gegenüberliegenden Bahnsteig wieder hochgeklettert ist und ein hübsches Mädchen auf die Wange geküsst hat, um dann wieder zurückzukommen und dabei breit zu grinsen - nicht über die eigene Dreistigkeit, an der gab es für ihn eh nichts zu rütteln, sondern darüber, wie das Mädchen ihn mit offenem Mund angegafft hat. Jakob hat nie begriffen, was Monty eigentlich antreibt, was diese Wildheit hervorgebracht hat, diese absolute Verachtung der Konsequenzen.
Jakob fragt sich, was der siebzehnjährige Monty wohl mit Mary D'Annunzio angefangen hätte. Nicht viel wahrscheinlich. Die Jungen in ihrer Klasse scheinen nicht viel für sie übrig zu haben. Sie ist flachbrüstig, heiser, ungepflegt; im Unterricht sitzt sie mürrisch herum und sagt kein Wort, außer sie lässt eine ihrer Schmähreden vom Stapel, die immer völlig wirr sind und nie etwas mit dem Thema zu tun haben. Ihre Freunde absolvieren alle das letzte Schuljahr und sind, um mit LoBianco zu sprechen, ein »Haufen androgyner Dope-Süchtiger«, der ständig in der Cafeteria am Kaffeesaufen zu sein scheint, die zerknautschten schwarzen Klamotten nach Zigarettenrauch stinkend, die Hände mit Stempeln vom gestrigen Zug durch die Clubs übersät. Jakob hat keine Ahnung, ob von diesen coolen Jungs jemand solo ist. Er hat einen David-Bowie-Verschnitt im Verdacht, mit Mary intim zu sein; die beiden stecken oft die Köpfe zusammen und flüstern so miteinander, dass Jakob jedes Mal schlecht wird vor Einsamkeit. Jakob hat den ganzen Haufen einmal in der Sheep Meadow gesehen, wie sie im Kreis um einen älteren Rastafari herumlagen, der auf einer Akustikgitarre Songs von Scratch Perry spielte. Niemand hat Jakob bemerkt, und er ist vorbeigehastet, ohne weiter auf Marys nackten Bauch zu achten und darauf, wie sie mit der Fingerspitze den Nabel umkreiste.
Ich will kein Lehrer sein, denkt Jakob düster und sieht zu, wie die Passagiere sich aus dem Waggon drängen. Ich möchte ein alter Rastafari sein.
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