25 Stunden
Sawyer.
Herrgott, ist das blöd, denkt Jakob. Lieber rauskriegen, wo sie wohnt, und dafür sorgen, dass ich ihr zufällig über den Weg laufe.
Mary? Mary D'Annunzio? Meine Güte, was machen Sie denn hier? Sie studieren hier, ja klar, das hatte ich vollkommen... Ach, ich besuche nur gerade ein paar Freunde. Was fiir eine nette Überraschung, Ihnen mal wieder über den Weg zu laufen... Bitte?... Natürlich, Sie können mir alles sagen, was Sie wollen... Nein, sagen Sie es mir ruhig, ich bitte Sie darum. Bei mir sind Geheimnisse gut aufgehoben.... Sie sind damals in mich verknallt gewesen? Im Ernst...? Nein. Nein, das muss Ihnen nicht peinlich - das ist doch...na ja, ob so viele Mädchen, weiß ich nicht. Ein paar vielleicht.
»Was grinst du denn so?«, fragt Slattery.
»Und wieso rangierst du bei Neunundneunzig? Das möcht ich gern wissen.«
»Na ja, ich...«
»Abgesehen von deinem Einkommen.«
Slattery zögert. »Also...«
»Dein Haarausfall müsste doch Punktabzug geben, oder nicht?«
»Nein, ganz und gar nicht. Der würde eine Frau bloß stören, wenn er mich stört.«
»Er stört dich doch«, sagt Jakob.
»Nein, tut er nicht.«
»Natürlich stört er dich. Wenn er dich nicht stören würde, würdest du dir doch nicht zweimal am Tag dieses Zeug auf den Kopf schmieren.«
Jakob weiß, dass es gefährlich wird, auf einer Sache weiter herumzureiten, wenn Slattery diesen Blick mobilisiert, wenn er einen anschaut, als wäre man eine Fliege, die über den Fernseher läuft, aber Jakob weiß auch, dass er damit durchkommt. Ihm würde Slattery nie eine knallen. Trotzdem muss Jakob wieder daran denken, wie Slattery einmal in der Verlängerung einen Ringkampf verloren hat, im letzten Jahr, seinen ersten Kampf als Mannschaftskapitän. Anschließend saßen sie nebeneinander in der Umkleide, und Jakob versuchte seinen Freund aufzubauen. Slattery wiegte sich mit geschlossenen Augen vor und zurück, ein weißes Handtuch über dem Kopf, und der Schweiß lief ihm das nackte Kreuz hinunter. Er ächzte, ein langes, dumpfes Ächzen, dann beugte er sich vor und knallte seine Linke in den gegenüberliegenden Spind. Ohne etwas zu sagen stand er auf und ging unter dieDusche. Jakob saß da, allein auf der Holzbank, und starrte die eingedrückte Spindtür an. Das obere Scharnier war komplett abgerissen.
Slattery fischt mit den Fingern ein nicht aufgequollenes Korn aus seinem gebratenen Reis, inspiziert es und schnippt es weg. »Haare sind kein Thema.«
»Sind Tischmanieren ein Thema? Dieses glänzende Teil links neben deinem Teller ist eine Gabel. Reis isst man mit Stäbchen oder mit der Gabel - oder meinetwegen auch mit einem Löffel -, aber Erwachsene essen ihren gebratenen Reis jedenfalls nicht mit den Fingern. Du weißt überhaupt nicht, wie man sich benimmt. Du verbringst die ganze Woche damit, irgendwelche ausländischen Staatshaushalte zu ruinieren oder was du da sonst so treibst, und wenn du dann rauskommst aus deinem Büro und wieder in dieser merkwürdigen Welt bist, die man Realität nennt, dann hast du keine Ahnung, wie du dich benehmen sollst. Und wie steht's mit Monty? Wo rangiert der auf deiner tollen Skala?«
»Monty? Monty geht ins Gefängnis. Das macht eine glatte Null.« Slattery hebt sich halb aus dem Stuhl und streckt sein linkes Bein durch, bis es leise plopp! macht.
»Geht's dir gut?«, fragt Jakob. »Die Kriegsverletzung wieder?«
Aber Slatterys Gesicht ist dunkel, seine Nüstern beben. »Diese kleinen Scheißer hätten mich fast umgebracht.«
»Wer?«
»Diese Idioten in dem Edel-Pick-up. Die wollten mich über den Haufen fahren.«
»Da wirst du jetzt den ganzen Abend drauf rumreiten, stimmt's?«
»Ich würd sie gern in die Finger kriegen. Bei Gott. Wollen wir doch mal sehen, wie hart sie dann drauf sind. Gib mir mit jedem von ihnen fünf Minuten in einem abgeschlossenen Raum. Nur fünf Minuten. Dann wollen wir mal sehen.«
»Komm und iss deine Rippchen. Sie werden kalt.«
Ich bin von lauter Irren umgeben, denkt Jakob. Der Ober ist ein zorniger Exilant; mein bester Freund ist ein Berserker; der Mann, der gerade am Fenster vorbeigeht, ist auf dem Weg nach Hause, um seine Frau umzubringen. Diese Stadt ist ein Irrenhaus. Was hab ich hier verloren?
Aber Jakob ist sich darüber im Klaren, dass er nie von New York wegziehen wird. Er hat nach dem College für ein Jahr in Seattle gelebt, und das hat es nicht gebracht. Er kam sich wie ein lebendes Klischee seiner Generation vor - er hat in einem Coffee
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