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25 Stunden

25 Stunden

Titel: 25 Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Benioff
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Beach-Volleyball-Platz.

10
    Die Fußgängerampel schaltet um, und Slattery tritt auf die Straße. Jakob packt ihn beim Ellbogen. Ein getunter viertüriger Pick-up biegt mit hoher Geschwindigkeit um die Ecke und zieht eine Fahne schwerer Bassklänge hinter sich her, ein Nachbild der lachenden Gesichter des Fahrers und seiner Passagiere.
    »Hab dir das Leben gerettet«, sagt Jakob und lächelt. Es gefällt ihm sehr, dass er das Auto hat kommen sehen, dass wider alle Erwartungen er derjenige mit den schnellen Reaktionen gewesen ist. Aber Slattery zeigt keine Dankbarkeit; er starrt dem davonschießenden Truck wütend hinterher.
    »Hast du das gesehen? Sie haben uns ausgelacht! Diese kleinen Scheißer fahren uns fast über den Haufen, und dann lachen sie uns auch noch aus!«
    »Idioten«, sagt Jakob. »Teenager.« Er fragt sich, ob es wohl welche von seinen Schülern gewesen sind, irgendeine Clique, die mit ihren Noten unzufrieden ist. Womöglich von Mary D'Annunzio angeheuert.
    »Diese kleinen Arschlöcher.« Slattery steht immer noch am Bordstein und starrt durch den fallenden Schnee in die Richtung, in der der Truck verschwunden ist. »Kommen sich wohl stark vor hinter zwei Tonnen Stahl.«
    Zehn Minuten später sitzen sie in einem chinesischen Restaurant am Fenster, und Slattery redet immer noch davon. »Diese Gören können nicht einmal ihre Namen schreiben, die sind in den Achtzigern geboren, Scheiße noch mal, und trotzdem heißt es: Ja, klar, haut rein, hier ist ein Führerschein, schnappt euch einen großen Truck und heizt richtig los, macht richtig einen drauf und kümmert euch nicht um dieses weiße Zeug, das ist bloß Schnee, fahrt so schnell, wie ihr Lust habt. Sollen sie wegen mir auch ruhig machen, zu Hause in Jersey oder sonst wo, wenn sie ihr Auto unbedingt zu Klumpfahren wollen. Aber müssen sie nach New York kommen und mein Leben aufs Spiel setzen?«
    Jakob sieht aus dem Fenster. Eine Frau kämpft mit ihrem Regenschirm, versucht ihn wieder zurückzustülpen, während der Schnee sich in ihren verwirrten roten Haaren sammelt. Jakob sieht, wie sie sich abmüht, und verliebt sich in sie. Jakob verliebt sich ständig in Frauen, denen er durchs Fenster zusieht, wie sie mit ernster Entschlossenheit drauflos marschieren, wohin auch immer. Jedenfalls nicht zu mir, denkt er trübsinnig und verdreht dann die Augen über so viel Selbstmitleid. Er schenkt Slattery und sich Tee ein.
    Der Ober kommt, um ihre Bestellung aufzunehmen. Er macht ein finsteres Gesicht, als er ihre Wahl hört, und greift sich wortlos die Speisekarten. Jakob stellt sich den Ober als den großen Dichter seiner Generation vor, der wegen seiner regimekritischen Äußerungen zur Flucht aus China gezwungen gewesen ist und sich nun seinen Lebensunterhalt damit verdienen muss, kulturlosen Leuten geschmackloses Essen aufzutischen.
    Slattery zeigt mit dem Kinn zum Fenster. »Kommt ganz schön was runter.«
    »Sie haben dreißig Zentimeter angesagt«, erwidert Jakob. Er versucht, aus den wirbelnden Blättchen am Boden seiner Tasse die Zukunft zu lesen. Was wird aus Monty werden? Wo ist er gerade, draußen im Schnee oder irgendwo im Warmen, und was denkt er gerade, und hat er Angst? Er muss Angst haben, nur dass Jakob sich gar nicht vorstellen kann, dass Monty Angst hat, dass Monty ein ängstliches Gesicht macht. Nicht dass er so mutig wäre - eher fehlt ihm etwas. Manchmal fragt Jakob sich, ob Monty andere Menschen überhaupt als real begreift, als gefährlich.
    Slattery betrachtet sein geisterhaftes Spiegelbild im Fenster, ein Gespenst im Schnee, dem die Haare ausgehen. Er betrachtet Jakob mit seiner Haarpracht. Was für eine Verschwendung, denkt Slattery.
    »Neulich hab ich diese Berechnungen angestellt, und da rangierst du bei Zweiundsechzig.«
    Jakob sieht auf. »Bei was?«
    »Bei Zweiundsechzig. Alle Junggesellen von New York, also alle, die nicht schwul sind, kämpfen um die vorhandenen Frauen, stimmt's? Genauso wie High School-Abgänger um die guten Studienplätze kämpfen.«
    Jakob macht den Mund auf, um etwas zu sagen, macht ihn zu, macht ihn wieder auf. »Und ich rangiere bei Zweiundsechzig?«
    »Genau.«
    »Mit anderen Worten, ich bin besser als zweiundsechzig Prozent der New Yorker Junggesellen.«
    »Du rangierst über ihnen, genau.«
    »Aber schlechter als... wie viel, achtunddreißig Prozent?«
    »Siebenunddreißig. Hundert Prozent geht ja nicht.«
    Der Ober kommt mit einem Tablett zugedeckter Servierplatten aus Aluminium. Er arrangiert

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