2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Saquina gebracht hat.
Es gibt wiederkehrende Phänomene des
Jakobswegs und Personen, die zu Legenden werden. Eine dieser Legenden ist
Jacques, ein Rentner, der sich einen Traum erfüllt hat und seit fünf Jahren mit
zwei Eseln, drei Hunden und einem alten Planwagen auf den Jakobswegen Europas
unterwegs ist. Manchen Pilgern gilt es als gutes Omen, seinen Weg zu kreuzen,
und in einigen Herbergen hängen Postkarten, von denen sein hageres, aus jeder Falte
Glück aussendendes Gesicht mutig und gleichzeitig schelmisch in den Raum
blickt. Diese und weitere Geschichten erfährt man nach und nach unterwegs. Der
Jakobsweg funktioniert so wie eine Art Telefonleitung durch die Neuigkeiten und
Gerüchte von Mund zu Mund weitergegeben werden.
Zwei Tafeln Ritter Sport zum Mittagessen
Den nächsten Tag verbringe ich mit Saquina . Als wir nach wenigen Kilometern um eine Kurve
biegen, stoßen wir plötzlich auf eine Hochzeitsgesellschaft. Geschminkte Damen
und feierlich dreinblickende Herren stehen um ein Büffet mit Champagner und
Kuchenstücken herum und warten offensichtlich auf die beiden Stars des Abends.
Sogar eine Band ist aufmarschiert, vier ältere Herren im Frack, deren
Blechblasinstrumente nichts Gutes vermuten lassen. Augenscheinlich leben wir
beiden verschwitzten und von der Sonne verbrannten Pilger momentan in einer Art
Parallelwelt: Wie zwei Aliens laufen wir an der erwartungsvollen Gruppe vorbei,
einige Gäste winken uns fröhlich zu. Etwas unwirklich kommt es mir vor, nach
Wochen des Alleinseins auf diese ausgelassen feiernden Menschen zu treffen. Als
sei dies ein kleiner Hinweis, dass, während ich Schritt für Schritt gen
Santiago laufe, gleichzeitig der Alltag für fast alle meiner sechs Milliarden
Mitmenschen weitergeht und sie ihren Gewohnheiten auch heute nachgehen:
Sie streiten sich, versöhnen sich
wieder, arbeiten und hinterziehen Steuern; einige sterben und andere werden
geboren. Und einer von ihnen denkt heute ab 11 Uhr nur noch daran, möglichst
schnell etwas Essbares aufzutreiben: Saquina hat
echten Pilgerhunger. In Assieu stürzen wir uns in den
örtlichen Supermarkt und essen anschließend je ein Baguette mit einem Laib
Käse. Überhaupt haben sich meine Essgewohnheiten deutlich geändert, seit ich
unterwegs bin. Habe ich während des heimischen Bürojobs noch versucht,
möglichst wenig Kalorien zu mir zu nehmen, benötige ich bei zehn Stunden Fußmarsch
täglich eine ungleich höhere Energiezufuhr. Der Körper sucht sich dabei selbst
heraus, was er am dringendsten braucht, er verlangt automatisch nach dem
Richtigen. Besonders wichtig sind schnelle Zucker, Energie, die sofort ins Blut
geht. Unter Pilgern ist es darum üblich, Schokolade zu teilen, und nach einer
morgendlichen 25-Kilometer-Wanderung kann das Mittagessen schon mal mit zwei
Tafeln Ritter Sport in einem Baguette eröffnet werden. Vor allem wenn man mit
jemandem vom Typ Komet unterwegs ist: Nach über 40 Kilometern kommen wir
schließlich auf dem Campingplatz von Clonas-sur-Varèze in einem geräumigen Wohnwagen zur Ruhe.
Am nächsten Tag gehen wir wieder bis zum
Mittag gemeinsam. Anschließend folge ich erneut dem Diktat meiner Hormone und
nehme mir vor, bis zum 45 Kilometer entfernten Bourg-Argenthal durchzugehen, um nicht gegenüber Saquina zurückzufallen, auch wenn ich nicht genau weiß, wie weit sie heute kommen wird.
Vom Dorf davor rufe ich an, um mich nach Übernachtungsmöglichkeiten zu
erkundigen. Da alle Herbergen in Bourg-Argenthal von
Touristengruppen belegt werden, muss ich zum ersten Mal seit meiner Abreise aus
Konstanz in einem Hotel der gehobenen Preisklasse übernachten. Zudem muss ich
um spätestens 21 Uhr dort sein, ansonsten wird das letzte Zimmer anderweitig
vergeben. Als ich anrufe ist es 20 Uhr, noch fehlen 8 Kilometer bis Bourg-Argenthal . Eine Herausforderung. „Kein Problem“, sage
ich also in den Hörer, dann mache ich mich im Laufschritt auf den Weg, während
mir die Sonne orangerote Lichtstrahlen wie Anfeuerungen hinterher wirft.
Ein Pilger im Luxushotel
Eine Minute vor neun stürze ich in das
Eingangsfoyer des Hotels: ein überhöflicher Empfang, mit rotem Samt überzogene
Stühle, kitschige Plastikblumen im Zimmer, eine goldene Badewanne und lustige
Motive auf dem Toilettenpapier. In solchen Räumlichkeiten verspüre ich jedes
Mal ein gewisses Unbehagen. Ich brauche das alles nicht, alles was ich will ist
ein Dach über dem Kopf, eine Dusche und eine Matratze.
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