2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Stattdessen treffe ich
auf ein Angebot, das — wie leider des Öfteren in Frankreich - nicht mit den
Bedürfnissen von Jakobswegwanderern übereinstimmt. Zudem spüre ich, dass ich
hier ein Bündel von unausgesprochenen Regeln beachten muss, die vorschreiben,
wie ich mich kleiden, was ich essen und was ich sagen soll. Je nachdem wie gut
man dieses Spiel mitmacht, wird man eingeschätzt. In diesem Hotel gehört es zum
Beispiel augenscheinlich zum guten Ton, etwas von dem erlesenen Frühstück übrig
zu lassen. Damit signalisiert man wohl, dass das Angebot ausreichend war, dass
man davon das heraussuchen konnte, was einem am besten schmeckt, und dass man
es im Übrigen nicht nötig hat, sich den Bauch voll zu schlagen, auch wenn man
dafür bezahlt hat. Ich beschließe jedenfalls, mich ganz wie ein Pilger zu
verhalten, schlage unter den missmutigen Blicken der Dienerschaft beim
Frühstück richtig zu, ziehe dann mein altes T-Shirt an, schnalle mir den
Rucksack auf den Rücken und ziehe weiter — nicht ohne vorher für die
Übernachtung eine Summe bezahlt zu haben, mit der ich in Nordspanien eine Woche
lang auskommen werde.
Kurz nach meinem Aufbruch von dem
Luxusschuppen durchquere ich ein Waldgebiet. Der Wind verfängt sich in den
Baumkronen und spielt mit den Blättern, eine würzige Mischung aus Fichtennadeln
und Pinienknospen liegt in der Luft. Aus weiter Ferne dringt zu Beginn noch der
Lärm einer Straße an mein Ohr, dann sind nur noch die Geräusche des Waldes zu
hören. Auf weichen, mit Moos bewachsenen Waldböden gehe ich am liebsten, und
manchmal setze ich mich zwischen zwei hoch gewachsenen Bäumen auf die Erde und
versuche zu verharren, für einen Moment eins zu werden mit dem Wald. Dabei
merke ich, dass das, was wir als Stille empfinden, in Wirklichkeit niemals
echte Stille ist. Immer knackt irgendwo ein Ast, fällt eine Eichel zu Boden,
summt eine Fliege, stellt sich ein Zweig dem Wind entgegen. In den raren
Momenten, in denen auch diese Geräusche verstummen, ist zumeist etwas
Unerwartetes im Gange, kündigt sich etwas Ungewöhnliches an. Manchmal ist es
kurz vor einem Gewitter so still, oder wenn ein großes Raubtier unterwegs ist.
Mit der Zeit lerne ich, solche und weitere Zeichen richtig zu deuten.
Ziemlich früh komme ich in Montfaucon an und habe eigentlich große Lust, noch weiter
zu gehen. Leider gibt es auf den kommenden 16 Kilometern keine
Übernachtungsmöglichkeit. Da sich jedoch, seit ich unterwegs bin, eine
unerklärliche Leichtigkeit in mir ausbreitet, durch die ich lerne, die Dinge so
zu nehmen, wie sie sich gerade präsentieren, streife ich ein wenig durchs Dorf
und treffe auf eine äußerst mitteilungsbedürftige Bäckerin, die extra für mich
nochmals ihren Laden öffnet, damit ich mir meine heiß geliebten éclairs — mit Karamell- oder Schokoladencrème
gefüllte Törtchen, die sicherlich als erstes von der Speisekarte jedes
Diätprogramms gestrichen würden — kaufen kann. Anschließend hole ich mir beim
mobilen Imbiss La Lasagnette eine doppelt
belegte Familienpizza und besorge mir anschließend im Café Lire- Bouchon , dem ,Korkenzieher’, den Schlüssel für die
örtliche Pilgerherberge, die ich heute inklusive 30 Betten, mehreren Duschen
und WCs, einer voll ausgestatteten Küche und einem Aufenthaltsraum für mich
allein habe. In dieser ungewöhnlichen Umgebung verbringe ich mehrere Stunden
damit, in regelmäßigen Abständen zwischen Essen, Lesen und Schreiben zu
wechseln, bevor ich, obwohl sich heute vieles ganz anders ereignet hat als
gedacht, zufrieden einschlafe.
Kleber
Am nächsten Morgen bekomme ich Gesellschaft:
Wenige Schritte nach meinem Aufbruch von der Pilgerherberge springt mir ein
verwahrlostes, bellendes Energiebündel entgegen, das mich wie einen alten
Bekannten begrüßt, den man seit Jahren nicht zu Gesicht bekommen hat. Als ich
reflexartig das pechschwarze Zottelfell des Wesens tätschele, beschließt es
offensichtlich, bei diesem netten neuen Herrchen zu bleiben. Einen halben Tag
lang streife ich so mit einer liebesbedürftigen Rottweiler-Dobermann-Mischung
durch Frankreich, die sich von Zeit zu Zeit an meine Beine schmiegt und den
Umkreis von drei Metern um meine Person nur verlässt, um weidenden Kühen eine
Heidenangst einzujagen, indem sie wie ein Besessener auf sie zu rennt und
versucht, nach ihren Beinen zu schnappen. Ich nenne meinen neuen vierbeinigen
Freund Kleber und male mir schon aus, wie wir beide die
Weitere Kostenlose Bücher