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2586 - Die Sektorknospe

2586 - Die Sektorknospe

Titel: 2586 - Die Sektorknospe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wim Vandemaan
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Gefühl, meine Brust würde etwas lesen. Aber es war nicht Philine, die mir etwas mit der Zunge auf die Haut schrieb. Ich - der so gut wie gar nicht lesen konnte! - las:
    Bin vorgegangen, Jungchen, warte dann auf dich. Wir sehen uns auf jeden Fall.
    Dann wurde mit einem Mal alles ganz leicht.
    *
    Ich saß am Ufer des Rio Grande. Ein ungeheuer großer Schaufelraddampfer zog vorüber, majestätisch und von den Stromschnellen irgendwie unberührt. Sechs, sieben, acht Stockwerke hoch war das Schiff, und das Schaufelrad - meine Güte, als müsste es das Schiff quer über den Pazifischen Ozean nach Indien treiben, bis über den Rand der Welt hinaus.
    Ganz oben an der Reling sah ich etliche Männer und Frauen stehen; Ladys winkten mit ihren Hüten, von denen bunte Bänder flatterten.
    Die Gents standen still und ernst, wie in Erwartung großer Dinge.
    Ich versuchte, den Namen des Schiffes zu entziffern, aber was Literatur angeht, war ich kein großes Licht.
    Jedenfalls nicht, wenn ich mit den Augen lesen musste.
    »Es ist die CASTRUM PEREGRINI«, sagte eine Stimme neben mir. Ich blickte zur Seite. Der Alte saß an einem Feuer und briet einen Truthahn.
    Ich musste ziemlich verblüfft geschaut haben, und als ob es der Name gewesen wäre, der mich verblüfft hatte, sagte der Alte: »Das heißt so viel wie die Festung des Wanderers.«
    »Wozu braucht ein Wanderer eine Festung?«, fragte ich, vielleicht, weil mir keine blödere Frage einfiel.
    »Ja, wozu?«, fragte der Alte zurück. Was, wie man zugeben wird, auch eine ziemlich blöde Antwort war.
    Ich schaute wieder auf das Schiff. Hatte ich gedacht, es zieht vorüber? Es zog nicht vorüber. Es war, als ob der Fluss mit seinen Stromschnellen unter ihm wegglitt. Ich fragte: »Müsste ich nicht eigentlich tot sein?«
    »Müsstest du wohl«, sagte der Alte.
    Ich überlegte. Möglichst unverdächtig sog ich den Duft der Umgebung ein. Definitiv kein Schwefel. Und mir war nicht über Gebühr heiß.
    »Ich bin aber nicht in der Hölle«, stellte ich fest.
    Der Alte äußerte sich nicht dazu.
    »Bin ich im Himmel?«
    Der Alte lachte. »Sagen wir: Du bist irgendwo dazwischen.«
    »Du bist also auch nicht etwa ...?« Ich strich mir mit einer Hand den imaginären Rauschebart. - »Oder etwa der ...?« Ich legte beide Fäuste an die Schläfen und fuhr die Zeigefinger zu Hörnern aus.
    »Weder noch«, sagte der Alte und gackerte fröhlich. »Ich bin auch irgendwie dazwischen, weißt du?«
    Ich schaute ihn fragend an.
    Er sagte: »Ich bin eine Art Neutrum. Ein Es. Und ich möchte dir ein Angebot machen.«
    Ich kniff die Augen misstrauisch zusammen. »Was für ein Angebot?«
    »Ich habe einen Freund«, sagte der Alte. »Ich möchte, dass du ihn für mich auf die Probe stellst.«
    »Klar«, sagte ich. »Was springt für mich dabei raus? Kann ich wieder leben?«
    Der Alte seufzte leise. »Liegt dir denn so viel am Leben?«
    Ich lachte. Was für eine bescheuerte Frage. Ich sagte: »Das Leben ist immerhin die einzige Gelegenheit, bei der man Faro spielen und Ladys treffen kann.«
    »Oh«, sagte der Alte, geblendet von meiner Weisheit. Er schien nachzudenken. Er schnitt sich einen Bissen Truthahn ab, kaute und sagte dann: »Manche meinen, das Leben sei eine sehr vorläufige Veranstaltung.«
    »Wennschon.«
    »Ich fürchte«, sagte der Alte und wies mit dem inzwischen abgenagten Truthahnknochen auf meine Brust, »damit wirst du im Leben nicht mehr viel Spaß haben.«
    Ich schaute an mir hinunter und sah jetzt die beiden Einschusslöcher. Sie schmerzten nicht, sie fühlten sich gar nicht an.
    Mein ganzer Körper fühlte sich nach gar nichts an.
    Ich schloss die Augen.
    »Wenn du ganz und gar sterben willst«, hörte ich die leise Stimme des Alten, »halte ich dich nicht auf. Aber mein Angebot steht.«
    Ich überlegte. Nein - ich überlegte natürlich nicht. Was hatte ich zu verlieren?
    »Dieser Freund«, sagte ich, »wann wird er hier auftauchen?«
    »Oh!«, sagte der Alte. »Hier wird er gar nicht auftauchen. Er weiß noch gar nicht, dass er mit mir befreundet ist, um die Wahrheit zu sagen: Er ist noch gar nicht geboren. Aber eines Tages wird er geboren sein, er wird mich suchen, und - da ich ihm Zeichen geben werde - er wird mich finden. In ...« Er angelte umständlich seine Raketenuhr am Goldkettchen aus der Westentasche, klappte sie auf und starrte darauf wie ein wirklich alter Mann mit wirklich schwachen Augen. »... in etwa einhundert Jahren.«
    Ich lachte. »In hundert Jahren bin ich tot -

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