2593 - Das Paralox-Arsenal
Kratzspuren im Fels. Sie deuteten darauf hin, dass sich hier jemand
Gedanken darüber gemacht hatte, den Pass besser begehbar zu machen - aber auch nicht zu gut. Andernfalls hätte es Abgrenzungen, Stützstufen und kleine Hinweise auf den exakten Verlauf
des Wegs gegeben.
»Na und? Immerhin bin ich Boy Scout«, murmelte er, »vermutlich sogar der allerletzte. Ich
finde schon meinen Weg!«
Falsch. Perry und Bully waren ebenfalls bei den Pfadfindern aktiv gewesen.
Aber wie wollten diese Jünglinge gegen ihn und seine Erfahrung anstinken? Ihr Lebensalter maß
in lächerlichen vierstelligen Zahlenbereichen ...
*
Tiff lachte - und wieder scheuchte er seine heimlichen Begleiter in ihre Verstecke zurück.
Nackte Füße, krallenbewehrt, kratzten über Fels oder über Eis.
»Ihr mögt wohl keine Geräusche?«, fragte er in die Stille. »Tun sie euch weh?«
Julian Tifflor erwartete keine Antwort, und er erhielt auch keine. Er setzte seinen Weg fort,
stieg den schmalen, kaum erkennbaren Pfad bergan.
Das bunte Tuch an erfrorenen Blumen, unter dem Eis verborgen, irritierte seine Sinne.
Angesichts dieses Farbenirrsinns würde es ihm auch hier nicht gelingen, seine Verfolger
auszumachen; zu sehr waren seine Augen beansprucht.
Der niedrige Sauerstoffgehalt zehrte an seiner Substanz. Er gierte nach mehr Luft und atmete
dreimal, viermal so rasch wie normal, um seine Lungen füllen zu können. Noch waren es etwa
zwanzig Höhenmeter bis zur Passhöhe; eine lächerliche Distanz, wie man glauben mochte.
Es sind schon Terraner wenige Zentimeter vor der rettenden Hütte gestorben, dachte er. Die Überlebenden hatten die Weisheit besessen, sich rechtzeitig zurückzunehmen. Indem sie zum
Beispiel am Berg der Weisheit nicht die letzte aller Fragen stellten ...
Julian Tifflor befolgte den eigenen Ratschlag. Er setzte Fuß vor Fuß, hielt kurz inne und
tankte Kraft, bevor er den Vorgang wiederholte. Es war hier nicht viel anders als im
Jahrmillionentunnel: Immer nur der nächste Schritt war wichtig.
Sein Herz schmerzte. All seine Nervenenden schmerzten. Selbst die Gedanken schmerzten.
Er konnte seine Verfolger spüren - oder täuschte er sich? Verfing er sich im Wahn, bedingt
durch Sauerstoffunterversorgung seines Gehirns?
Er hätte sich bloß umzudrehen brauchen und hätte seine Bestätigung bekommen. Hätte seine
Neugierde stillen können.
Und das Ziel? Dieser höchste Punkt, der ihm hoffentlich erlauben würde, über das Land des
Zeitkorns hinwegzublicken und seine Größe auszuloten?
Dreh dich um!, forderte eine sirenenähnliche Stimme irgendwo in diesem Klumpen, der
sich Kopf nannte. Neugierde ist das wichtigste menschliche Gut. Es formte uns auf dem Weg zu
Intelligenzwesen und es machte, dass wir den Weltraum zu erobern lernten.
Ein Schritt aufwärts. Pause machen. Nach Luft schnappen.
Was für einen bitteren Beigeschmack das Wort »erobern« während all der Jahre als Unsterblicher
bekommen hatte ... Sie waren so naiv gewesen. Hatten an sich gerafft, was links und rechts des
Weges gelegen war.
Anfänglich von den »Umständen«, von den Feinden, getrieben, später von der eigenen Unruhe. Das
Innehalten und ein ausreichendes Maß an Nachhaltigkeits- denken war den Terranern nur selten in
den Sinn gekommen.
Ein Schritt aufwärts. Pause machen.
Nach Luft schnappen.
*
Er vernahm die Geräusche. Sie hörten sich nun bedrohlich an. So als wollte ihn eine Horde
zahnbewehrter Osterhasen anfallen und ihm Schokoladensoße in den Rachen stopfen, bis er an einem
Zuckerschock verendete.
Tiff wollte lachen; gerade rechtzeitig konnte er sich davon abhalten. Lachen kostete
wertvollen Sauerstoff.
Ein Schritt aufwärts. Pause machen. Nach Luft schnappen.
Die Osterhasen wollten ihm an den Kragen. Sie hatten ihn eingelullt und ihm Harmlosigkeit
vorgegaukelt. In Wirklichkeit warteten sie auf Opfer, um deren Schwächen zu analysieren und dann
erbarmungslos zuzuschlagen.
Wenn es Osterhasen gibt, sind Weihnachtsmänner, Christkinder, Nikolause, Yetis, Bigfoots
und Wolpertinger meist nicht allzu weit, sagte sich Tiff. Sie sammeln sich ringsum. All
diese Schreckensund Segensgestalten, die mich während meiner Kindheit - und auch noch viel, viel
später - erschreckt und einen dicken Kontrapunkt gesetzt hatten. Einen Kontrapunkt gegenüber dem
dicken, saturierten Gott Des Ewigen Fortschritts.
Und jetzt sind die Kontrapunkte gekommen, um mich zu holen.
Ein Schritt aufwärts.
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