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2593 - Das Paralox-Arsenal

2593 - Das Paralox-Arsenal

Titel: 2593 - Das Paralox-Arsenal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Lukas
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Kratzspuren im Fels. Sie deuteten darauf hin, dass sich hier jemand

Gedanken darüber gemacht hatte, den Pass besser begehbar zu machen - aber auch nicht zu gut. Andernfalls hätte es Abgrenzungen, Stützstufen und kleine Hinweise auf den exakten Verlauf

des Wegs gegeben.
    »Na und? Immerhin bin ich Boy Scout«, murmelte er, »vermutlich sogar der allerletzte. Ich

finde schon meinen Weg!«
    Falsch. Perry und Bully waren ebenfalls bei den Pfadfindern aktiv gewesen.
    Aber wie wollten diese Jünglinge gegen ihn und seine Erfahrung anstinken? Ihr Lebensalter maß

in lächerlichen vierstelligen Zahlenbereichen ...
    *
    Tiff lachte - und wieder scheuchte er seine heimlichen Begleiter in ihre Verstecke zurück.

Nackte Füße, krallenbewehrt, kratzten über Fels oder über Eis.
    »Ihr mögt wohl keine Geräusche?«, fragte er in die Stille. »Tun sie euch weh?«
    Julian Tifflor erwartete keine Antwort, und er erhielt auch keine. Er setzte seinen Weg fort,

stieg den schmalen, kaum erkennbaren Pfad bergan.
    Das bunte Tuch an erfrorenen Blumen, unter dem Eis verborgen, irritierte seine Sinne.

Angesichts dieses Farbenirrsinns würde es ihm auch hier nicht gelingen, seine Verfolger

auszumachen; zu sehr waren seine Augen beansprucht.
    Der niedrige Sauerstoffgehalt zehrte an seiner Substanz. Er gierte nach mehr Luft und atmete

dreimal, viermal so rasch wie normal, um seine Lungen füllen zu können. Noch waren es etwa

zwanzig Höhenmeter bis zur Passhöhe; eine lächerliche Distanz, wie man glauben mochte.
    Es sind schon Terraner wenige Zentimeter vor der rettenden Hütte gestorben, dachte er. Die Überlebenden hatten die Weisheit besessen, sich rechtzeitig zurückzunehmen. Indem sie zum

Beispiel am Berg der Weisheit nicht die letzte aller Fragen stellten ...
    Julian Tifflor befolgte den eigenen Ratschlag. Er setzte Fuß vor Fuß, hielt kurz inne und

tankte Kraft, bevor er den Vorgang wiederholte. Es war hier nicht viel anders als im

Jahrmillionentunnel: Immer nur der nächste Schritt war wichtig.
    Sein Herz schmerzte. All seine Nervenenden schmerzten. Selbst die Gedanken schmerzten.
    Er konnte seine Verfolger spüren - oder täuschte er sich? Verfing er sich im Wahn, bedingt

durch Sauerstoffunterversorgung seines Gehirns?
    Er hätte sich bloß umzudrehen brauchen und hätte seine Bestätigung bekommen. Hätte seine

Neugierde stillen können.
    Und das Ziel? Dieser höchste Punkt, der ihm hoffentlich erlauben würde, über das Land des

Zeitkorns hinwegzublicken und seine Größe auszuloten?
    Dreh dich um!, forderte eine sirenenähnliche Stimme irgendwo in diesem Klumpen, der

sich Kopf nannte. Neugierde ist das wichtigste menschliche Gut. Es formte uns auf dem Weg zu

Intelligenzwesen und es machte, dass wir den Weltraum zu erobern lernten.
    Ein Schritt aufwärts. Pause machen. Nach Luft schnappen.
    Was für einen bitteren Beigeschmack das Wort »erobern« während all der Jahre als Unsterblicher

bekommen hatte ... Sie waren so naiv gewesen. Hatten an sich gerafft, was links und rechts des

Weges gelegen war.
    Anfänglich von den »Umständen«, von den Feinden, getrieben, später von der eigenen Unruhe. Das

Innehalten und ein ausreichendes Maß an Nachhaltigkeits- denken war den Terranern nur selten in

den Sinn gekommen.
    Ein Schritt aufwärts. Pause machen.
    Nach Luft schnappen.
    *
    Er vernahm die Geräusche. Sie hörten sich nun bedrohlich an. So als wollte ihn eine Horde

zahnbewehrter Osterhasen anfallen und ihm Schokoladensoße in den Rachen stopfen, bis er an einem

Zuckerschock verendete.
    Tiff wollte lachen; gerade rechtzeitig konnte er sich davon abhalten. Lachen kostete

wertvollen Sauerstoff.
    Ein Schritt aufwärts. Pause machen. Nach Luft schnappen.
    Die Osterhasen wollten ihm an den Kragen. Sie hatten ihn eingelullt und ihm Harmlosigkeit

vorgegaukelt. In Wirklichkeit warteten sie auf Opfer, um deren Schwächen zu analysieren und dann

erbarmungslos zuzuschlagen.
    Wenn es Osterhasen gibt, sind Weihnachtsmänner, Christkinder, Nikolause, Yetis, Bigfoots

und Wolpertinger meist nicht allzu weit, sagte sich Tiff. Sie sammeln sich ringsum. All

diese Schreckensund Segensgestalten, die mich während meiner Kindheit - und auch noch viel, viel

später - erschreckt und einen dicken Kontrapunkt gesetzt hatten. Einen Kontrapunkt gegenüber dem

dicken, saturierten Gott Des Ewigen Fortschritts.
    Und jetzt sind die Kontrapunkte gekommen, um mich zu holen.
    Ein Schritt aufwärts.

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