2595 - Wanderer am Scheideweg
gezwungen, Prioritäten zu setzen.« Pral dachte nach und suchte in seinen Erinnerungen so lange nach der passenden Phrase, bis er sie gefunden hatte. »Es tut mir leid«, sagte er.
»Du ... bist ein verdammt schlechter Lügner.«
»Ich wollte lediglich deine Erwartungshaltung erfüllen.« Pral drehte sich um und ging.
Der Maahk empfand so etwas wie Zufriedenheit. Er hatte die bei Lemurischstämmigen gültigen Konventionen erfüllt und er hatte gleichzeitig jene Ehrlichkeit geliefert, die sie so gerne einforderten. Akika Urismaki würde mit seinem Verhalten zufrieden sein.
*
Die Vorgänge im Friedhof verliefen ähnlich wie jene in der Maschinenstadt. Die »Buckelwale«, wie sie Perry Rhodan genannt hatte, veränderten sich. Die an steinerne Tierwesen erinnernden Denkmäler mutierten zu formlosen Klumpen, aus denen sich grell aufleuchtende psi-materielle Artefakte lösten. Sie nahmen für wenige Sekunden die Pral bekannte Schneeflockenform an, um dann als goldene Leuchterscheinung zu enden, die sich nach einer Weile verflüchtigte.
Der Prozess war unumkehrbar. Eine Figur nach der anderen verwandelte sich in dünne Schlieren und verlor sich im Nichts. In einem Nichts, das ganz gewiss ein »Etwas« war - so hätten es die Terraner vielleicht formuliert. Pral konnte jedoch mit seinen bescheidenen Möglichkeiten nicht das Geringste anmessen.
Er fühlte Unbehagen. Hier existierten zwar keine Lichtstrahlen, die nach ihm tasteten und sein Leben gefährdeten. Die Schneeflocken entzogen im Augenblick ihrer Deflagration sogar seinem Schutzschirm Energie.
Pral meinte, eine mentale Welle der Gier zu spüren. Die Superintelligenz raffte an sich, was sie erwischen konnte. Selbst die geringsten Mengen an Kraft, und war sie noch so ungeeignet für ihre Zwecke, erweckten ihre Aufmerksamkeit.
Pral ging weitaus sorgsamer vor als in der Maschinenstadt-Kopie. Er ließ Ortungssonden ausschwärmen und zog sich bis an den Rand des Friedhofs zurück, bereit, den Raum binnen weniger Sekunden zu verlassen.
Trotz aller Vorsicht wurde er überwältigt von Sinneseindrücken, die ihn ES miterleben ließ. Sie hatten etwas Trauriges, aber auch ... Berauschendes an sich, und sie machten, dass Pral beinahe die Kontrolle über sein Denken verlor.
»Agrester!«
»Ich höre dich; allerdings ist der Empfang schlecht.«
»Hast du Akika Urismaki bergen lassen?«
»Ja. Es geht ihm den Umständen entsprechend.«
Seltsam. Warum musste er ausgerechnet jetzt an das Schicksal des Halbspur- Changeurs denken?«
»Übernimmst du die Daten, die von meinen Ortungssonden erfasst werden?«
»Ja. Ich würde dir allerdings raten, den Friedhof so rasch wie möglich zu verlassen. Deine Medo-Einheit übermittelt Werte, die auf einen nahenden körperlichen und geistigen Kollaps schließen lassen.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich fühle mich gut.«
Pral schaltete die Verbindung weg. Er konzentrierte sich erneut auf die Vorgänge vor seinen Augen. Sie erschienen ihm mit einem Mal facettenreicher und ... und ... höherwertiger. Sie ergaben mehr Sinn und Tiefe als zuvor - und mit einem Mal verstand er.
Eine Art Rückkopplung geschah. Die Superintelligenz ließ ihn an den Vorgängen in seiner Umgebung teilhaben - und sie ließ ihn weitaus tiefer als zuvor empfinden. Das Mitgefühl für Urismaki; die an Agrester gerichteten Worte, sich »keine Sorgen zu machen«; die Lust daran, zu bleiben und die Ereignisse mit all seinen Sinnen aufzunehmen, statt die Ortungssonden ihre Arbeit tun zu lassen und aus sicherer Entfernung zu beobachten - dies alles war Ausdruck einer Änderung, die seine Psyche betraf.
»So ist es also.« Prals Beine wurden schwach. Die Sacklungen zogen sich zusammen, in seinem Oberkörper fühlte er Beklemmung. Er war kaum noch in der Lage, ausreichend Wasserstoff zu atmen ...
»Du musst aus der Halle verschwinden!«, mahnte ihn Stalwart Agrester. »Du stehst kurz vor einem Zusammenbruch.«
»Ein wenig noch ... «
Euphorie. Angst. Gefahr. Gier. Selbstüberschätzung. Neugierde.
Er kannte dies alles - und dennoch stellten sich die Empfindungen und Daseinszustände auf einmal viel intensiver, bunter und dichter dar. Nur unter größter Mühe gelang es ihm, bei Verstand zu bleiben und weitere Messungen vorzunehmen, während ein Buckelwal nach dem anderen verschwand.
»Die Sekundäremissionen«, murmelte er. »Sie bedeuten etwas.«
»Du sprichst in Rätseln.«
Wer redete da mit ihm?
»Ich habe eine Spur gefunden. Es ist wichtig, sehr wichtig ...
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