264 - Verschollen
war groß, trug einen Kampfanzug aus weichem Leder und kniehohe Stiefel. Seine Brust schützte ein glänzender Harnisch. Der Blick seiner grünen Augen glitt über die Gesichter der Umstehenden, die ihn respektvoll musterten.
»Ich bin Traver, der Anführer der Scones«, stellte er sich vor. Dabei warf er mit einer Kopfbewegung sein langes dunkles Haar zurück. »Für heute seid ihr meine Gäste. Die beiden darauffolgenden Nächte müsst ihr bezahlen und in drei Tagen seid ihr verschwunden, wie all die anderen auch.« Abwartend blickte er in die Menge.
Plötzlich tauchte Lancer neben ihm auf. »Wird Zeit, dass du kommst«, raunte er ihm zu, »beinahe hätte die Meute die Ruine gestürmt.«
»Ach was, schau sie doch an. Sind doch ganz friedlich.«
Tatsächlich herrschte nachdenkliche Stille. Die Aussicht für die nächsten Nächte ein Dach über den Kopf zu haben, wirkte zunächst beruhigend auf die Leute. Doch dann ertönte plötzlich eine aufgebrachte Stimme: »Du willst uns also eine Henkersmahlzeit geben, bevor du uns unserem Schicksal überlässt. Zuhause warten wahrscheinlich schon die Dämonen!«
Die Umstehenden gaben dem Sprecher lautstark recht. Wütend forderten sie Traver auf, so lange bleiben zu können, bis die Gefahr vorüber war.
Der Anführer der Scones hob beschwichtigend die Arme. »Gemach, Leute, gemach. Ich bin doch kein Schlächter! Vermutlich habt ihr die Neuigkeit noch nicht gehört. Späher berichteten mir, dass sich die Dämonen ins Landesinnere zurückgezogen haben. Die Gefahr ist vorüber!«
Ohne den verblüfften Zuhörern Gelegenheit zu geben, über das Gesagte länger nachzudenken, machte er eine einladende Geste in Richtung Ruine. »Und jetzt kommt endlich ins Warme! Esst, trinkt, feiert und erholt euch von den vergangenen Strapazen!« Damit kehrte er ihnen den Rücken und marschierte zum Tor.
Er hatte den Treppenschacht dahinter noch nicht erreicht, als ihn der Hauptmann der Torwache einholte. »Was redest du da von Spähern und vertriebenen Dämonen? Bist du nicht ganz richtig im Kopf?«
Traver lachte. »Meinem Kopf geht es gut, Lancer. Ich habe nur Gerüchte mit Gerüchten bekämpft. Ich wette mit dir: Keine zwei Stunden und alle werden davon reden, dass die Dämonenplage vorbei ist.«
Der Torwächter zog ein verdrießliches Gesicht. »Wenn du damit nur recht behältst«, brummte er und folgte Traver die Stiegen hinab. Unten angekommen, stöhnte der Hauptmann auf.
Fragend sah ihn der Scones-Anführer an. »Was ist nun schon wieder?«
»Wo zum Teufel sollen wir die Neuankömmlinge noch unterbringen?« Verzweifelt deutete Lancer in die überfüllte Einganghalle.
Traver grinste. »Heute ist Kristianstag, Lancer. Wir werden unsere persönlichen Räumlichkeiten mit den Gästen teilen. Dort ist genügend Platz für alle.« Damit ließ er ihn stehen und machte sich auf den Weg in die Küche. Der Koch hatte ihm eine Tuurkeykeule versprochen, und bei dem Gedanken an ein deftiges Stück Fleisch lief dem Scone das Wasser im Munde zusammen. Vor dem Kücheneingang wäre er beinahe mit Fletscher zusammengeprallt, der im Stechschritt aus der Kochstube stürmte. Geschickt wich Traver ihm aus.
»Hoppla!«, rief der Mann aus Leeds. Bepackt mit Kerzen, Geschirr und irgendwelchem Holzgerät drängte er an dem Scone vorbei. »Hab's eilig. Merry Christmas und so.« Ohne sich noch einmal umzusehen, hastete er den Gang hinunter.
Verwundert blickte Traver ihm nach. Glattrasiert und in gewaschener Uniform war Fletscher kaum wiederzuerkennen. Offensichtlich bereitete der hagere Zweimetermann sich schon auf die Wiederaufnahme seiner einstigen Tätigkeit als Bunkermajor vor. Vor zwei Tagen hatte er mit den Scones ein Geschäft abgeschlossen, das ihn wieder nach Leeds bringen sollte.
Doch Traver hatte seine eigenen Pläne mit Fletscher. Pläne, die weit mehr Gewinn brachten als der Beutel Schmuck, den der einstige Bunkermajor ihnen bezahlt hatte…
***
Ann stand auf dem Podest, das man für die Musiker in der Eingangshalle errichtet hatte. Enttäuscht blickte sie zur Treppe. Die Letzten der Neuankömmlinge stiegen nun die Stufen hinab. Doch auch unter ihnen konnte sie kein vertrautes Gesicht entdecken. So sehr hatte sie gehofft, dass ihre Mum doch noch kommen würde. Traurig kletterte sie von der Plattform und machte sich auf den Weg zurück in ihre Unterkunft. Mit gesenktem Blick drängte sie sich durch das Menschengewühl. Plötzlich hielt jemand sie am Arm fest. »Bist du nicht die kleine
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