264 - Verschollen
Christmas Day. Dann feiern wir ganz groß. Na, was sagst du dazu?«
Jetzt hob das Mädchen den Kopf. Fletscher grinste. Na also, man muss nur die richtigen Worte finden! Doch als er ihre funkelnden Augen sah, verging ihm das Grinsen.
»Wann kommt Mum?«, wollte das Mädchen wissen.
Fletscher kam sich vor, als betrete er gefährliches Terrain. »Weiß nicht. Vielleicht morgen. Vielleicht auch erst in ein paar Tagen.«
»Meine Mutter sagt immer ganz genau, wie lange sie wegbleibt, Mister. Sie hat Ihnen bestimmt gesagt, wie lange die Jagd auf die Bestien dauert.«
Fletscher legte die Ohren an. Diesen Ton hatte sie ihm gegenüber das letzte Mal am Abend auf der Weide vor Jennys Haus angeschlagen. Die Kleine war klug. Doch ich bin klüger! Einen Moment lang starrte er andächtig zu Boden. Dann sah er sie an. »Hör zu… eigentlich wollte ich es dir nicht sagen, um dich nicht traurig zu machen. Aber deine Mutter meinte, es könnte bis Januar dauern… die Jagd und die Versorgung der Verletzten.«
»Verletzte?« Mit großen Augen schaute das Kind ihn an. »Sie haben nie was von Verletzten gesagt!«
»Stimmt.« Fletscher senkte schuldbewusst den Kopf. »Ich wollte dich nicht beunruhigen.«
Eine Weile lang sagte Ann nichts mehr. Schmallippig und mit gerunzelter Stirn blickte sie auf einen Punkt in seinem Rücken. Der Mann aus Leeds war sich nicht sicher, ob sie ihm seine Geschichte abgekauft hatte. Sollte er noch etwas hinzufügen? Doch plötzlich nickte sie. »Also gut. Januar«, sagte sie leise. Dabei streckte sie ihm ihre kleine Hand entgegen. Verwundert griff Fletscher danach. Als er Anns entschlossenem Blick begegnete, kam er sich vor, als nähme sie ihm ein Versprechen ab. Bevor er darüber nachdenken konnte, stand die Kleine auf und sagte etwas, das ihn noch mehr ins Grübeln brachte.
»Bei uns zu Hause stehen an Christmas Day immer Kerzen auf dem Tisch, Mister. Pieroo bürstet sich seine schwarzen Fingernägel weiß und schneidet die Bartzotteln gerade, der stinkende Hund wird gebadet und alle ziehen sich saubere Kleider an.«
***
Am Abend stapfte ein sehr griesgrämiger Fletscher durch die Katakomben von Blarney Castle. Ein verwaschenes Tuch hing über seiner Schulter und in seinen Armen hielt er ein Bündel Kleider, auf dem ein Stück Seife lag. Die gesamte Ausstattung hatte er als Gegenleistung für ein Armband aus Kupfer erhalten. »Ich lasse mir doch nicht von diesem Gör auf der Nase herumtanzen«, fluchte er leise. »Und der Bart bleibt, wo er ist!« Er hatte inzwischen Anns seltsame Bemerkung über Christmas Day entschlüsselt und war alles andere als begeistert.
Dennoch bog er in den Schacht ein, der in die Badegrotte der Scones führte: eine größere Höhle mit verschiedenen Zubern und einem Wasserbassin. Daneben ein Tisch und Bänke, an denen man nach einem ausgiebigen Bad trinken und essen konnte. Da Fletscher in den vergangenen Jahren hin und wieder als Bote zwischen den Scones und anreisenden Schmugglern in der Bucht tätig gewesen war, besaß er das Vorrecht, die Grotte benutzen zu dürfen.
Als er sie betrat, wurde er grölend empfangen. »Fletscher, du wirst doch nicht etwa ein Bad nehmen wollen!«, rief einer der beiden Männer, die an dem Tisch Gin tranken. »Danach wird dich deine eigene Mutter nicht mehr erkennen!«, prustete der andere. Es waren Traver, der Anführer der Scones, und sein Gefolgsmann Lancer. Ein bulliger Kerl mit braunem Wuschelkopf, Hauptmann der Torwache.
»Lasst mich in Ruhe!«, knurrte Fletscher und marschierte weiter zum Bassin, in dem sich zwei weitere Männer der Scones gerade genüsslich ausstreckten. Robin Fletscher hoffte, dass sie nicht auch noch mit abfälligen Bemerkungen aufwarten würden. Doch er machte sich umsonst Sorgen. Als er sich ausgezogen hatte, verließen die beiden fluchtartig das Becken. Auch gut , dachte Fletscher, stieg in das ungewohnte Nass und begann sich von oben bis unten einzuseifen.
Währenddessen unterhielten sich am Tisch gegenüber Traver und Lancer über die laufenden Geschäfte. Robin wusste, dass die Scones hauptsächlich mit Schmuggel ihren Unterhalt verdienten. Sie schmuggelten alles, was sich zu Geld machen ließ: Schmuck, Edelsteine, Waffen und gestohlenes Vieh. Mitunter sogar Menschen, die in aller Eile Stadt oder Land verlassen mussten. Durch die drei Tunnels konnten sie die Leute an die Westküste oder ins Landesinnere schaffen.
Manchmal boten sie Flüchtigen auch einfach nur für einige Zeit Unterschlupf in ihren
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