264 - Verschollen
die Leute auf dem Marktplatz war auch er versteinert. Und auch die drei Gestalten, die wohl hinter dem Barbaren Schutz gesucht hatten, waren zu Stein erstarrt.
»Was machst du hier? Warum bist du nicht bei Jenny?«, brüllte der Mann aus Leeds den Leblosen an. Dabei bebte er am ganzen Körper. In einer anderen Situation hätte ihn der Anblick des Schwarzbarts tiefe Befriedigung verschafft. Doch jetzt und hier erfüllte er ihn nur mit Verzweiflung. Jenny musste ganz alleine gewesen sein, als die Schatten über das Dorf herfielen.
Heulend wandte Fletscher sich ab und lief zurück zum Marktplatz. Ohne sich noch einmal umzusehen, machte er sich auf den Weg zu seiner Göttin.
Es begann wieder zu schneien, als er ihr Anwesen erreichte, doch er bemerkte es kaum. Seine Glieder fühlten sich bleischwer an und in seinem Kopf herrschte Leere. Die offene Haustür kam ihm vor wie der aufgerissene Rachen eines Untiers. Fletscher wankte über die Schwelle. Drinnen war es dunkel und still.
Er fand Jenny in einem der hinteren Zimmer. Sie saß in einem Lehnstuhl. Im Lichtkegel seiner Stablampe schimmerte ihr Gesicht wie Alabaster. In diesem Moment schien die Welt um den Mann aus Leeds zu versinken. Weder fragte er sich, wie es sein konnte, dass Menschen aus Fleisch und Blut zu Stein wurden, noch wer oder was diese schattenhaften Wesen waren. Weinend sank er vor der Frau aus Stein auf die Knie. Er umfasste ihre versteinerte Hüfte und verbarg sein Gesicht in ihrem kalten Schoß. Welchen Sinn hatte sein Leben noch, jetzt, da seine Göttin nicht mehr war? Wohin sollte er ohne sie?
Stunden vergingen, in denen sich der einstige Bunkermajor immer weiter in sich zurückzog. Er wollte sterben. Genau hier, zu Jennys Füßen. Doch das Sterben gestaltete sich für Fletscher ähnlich schwer wie das Leben. Es waren das Hundegekläffe und das Brüllen der Wakudas im Stall, die seine Todessehnsucht störten. Und Schritte!
Alarmiert hob der Mann aus Leeds den Kopf. Hatte einer der Dorfbewohner überlebt? Oder kamen die Schatten zurück? Von Panik getrieben, sprang er auf und stürzte aus dem Zimmer. Er hastete durch einen kleinen Gang und gelangte in die Küche. Dort fiel sein Blick auf eine Tür, die zum Garten hinaus führte. Sekunden später schlüpfte er leise ins Freie. Keine Sekunde zu früh!
***
Es war ein Mann, der sich in Jennys Zimmer zu schaffen machte. Ein großer blonder Mann im Pelzmantel. Erst kniete er weinend vor der versteinerten Frau, dann stand er auf und durchsuchte die restlichen Zimmer. Schließlich kehrte er zurück und las lange in Jennys Buch. Dabei strich ihm Anns schwarzer Hund winselnd um die Beine, als gehöre er zu dem Fremden.
Fletscher ballte die Hände zu Fäusten. Wer war der Kerl? Und was hatte er mit seiner Jenny zu schaffen? Mit brennenden Augen starrte er durch das Fensterglas. Plötzlich erhob sich der Fremde und stürmte aus dem Zimmer. Der einstige Major ging schnell in Deckung. Hatte der Blonde ihn etwa bemerkt? Nach wenigen Sekunden hörte er ihn rufen. »Ann!«, schrie er. »Ann, bist du hier?« Dann entfernten sich Schritte in Richtung Dorf.
Ann kannte er also auch! Wie betäubt presste Fletscher seinen Körper gegen die Hausfassade. Seine Gedanken waren ganz wirr vor Eifersucht und Zorn. Hatte Jenny ihn all die Jahre betrogen? So getan, als wäre sie mit dem Schwarzbart zusammen, und dabei hatte sie die ganze Zeit auf diesen Blondschopf gewartet! Fassungslos ging sein Blick in die Ferne. Wie eine graue Decke lag der anbrechende Morgen über den Waldhügeln hinter der Weide.
Ein finsteres Lächeln glitt über Fletschers Gesicht. »Den stinkenden Barbaren hat sie auch betrogen«, flüsterte er heiser. Und der blonde Kerl würde jetzt nichts mehr von ihr haben.
Mit diesem Gedanken setzte er sich in Bewegung. Geduckt folgte er dem Fremden ins Dorf. Der Techno hatte nicht vor, sich zu erkennen zu geben. Neugierde trieb ihn an. Neugierde und das Bedürfnis, den Blondschopf leiden zu sehen. Zufrieden beobachtete er, wie der Mann ein paar Häuser und Ställe durchsuchte und immer verzweifelter nach der kleinen Ann rief. Nach einer Weile verschwand er aufs Neue in den Hütten, die er bereits durchkämmt hatte.
Fletscher nutzte die Gelegenheit und suchte Deckung hinter der Mauer, die die Siedlung umfriedete. Von dort aus setzte er seine Beobachtungen fort. Er musste eine ganze Weile warten, bis der Blonde, begleitet von Anns Hund, wieder auftauchte. Er wirkte mehr als niedergeschlagen. Erschöpft
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