264 - Verschollen
ließ er sich auf eine Bank sinken. »O Gott, Ann, wo bist du nur…«, hörte Fletscher ihn flüstern.
Die Hoffnungslosigkeit in der Stimme des Fremden war nicht zu überhören und entlockte Fletscher ein gehässiges Grinsen. Es erstarb augenblicklich, als plötzlich der Schwarze anschlug. Das Mistvieh hatte ihn entdeckt! Fluchend ergriff Fletscher die Flucht, doch der blonde Kerl war schneller als er. Er überholte ihn, warf sich gegen ihn und hielt ihn fest. »Wer sind Sie?«, wollte er wissen.
Misstrauisch begutachtete Fletscher seinen Gegner: strahlend blaue Augen, kantiges Gesicht, wacher Blick. Sein Griff war eisern und er hatte breite Schultern. Vermutlich verbarg sich unter dem Pelzmantel ein durchtrainierter Körper. Ein hübsches Kerlchen, das Jenny sich da ausgesucht hatte! Anscheinend kam er aus der gleichen Gegend wie sie. Zumindest klang seine Aussprache ähnlich. Ein wenig hitzig, der Bursche. Energisch forderte er Antworten von dem Mann aus Leeds.
Doch Fletscher dachte nicht daran. Er würde mit dem Kerl von Jenny nicht kooperieren! Kurzerhand entschied er, den Verwirrten zu spielen. Meist ließen ihn die Leute dann in Ruhe. Also stammelte er irgendetwas. Doch der Blondschopf ließ nicht locker. Er zerrte an Fletschers Mantelkragen und entdeckte schließlich das verblichene Namensschild an der Uniform darunter. Major Robin Fletscher. »Was ist hier geschehen, Fletscher?«, rief er ungeduldig.
Das willst du wohl gerne wissen, du verdammter Mistkerl , dachte der Techno. Doch natürlich sprach er seinen Gedanken nicht aus. Stattdessen zog er ein ängstliches Gesicht und stammelte noch ein wenig unzusammenhängendes Zeug.
»Reißen Sie sich zusammen, Fletscher!«, brüllte der Blonde.
»Jenny… grausame Jenny… Scheißbarbar…«
»Sie kennen Jennifer Jensen?« Schon wieder fummelte der Fremde an ihm herum. »Kennen Sie auch ihre Tochter? Haben Sie Jennys Tochter Ann gesehen?«
Fletscher konnte sich kaum noch beherrschen. Ob ich Jenny kenne? Was redete der Mistkerl da? Keiner kennt sie besser als ich. All die Jahre. All die einsamen Stunden. »Vier Jahre warte ich… warte ich auf meine Göttin…« Fletscher redete wie betäubt, deutete nach Süden zur Küste. »Im Wald… in der Höhle… seit vier Jahren bete ich zu Gott, doch sie will mich nicht, will nur Pieroo…« Und dich, du Dreckskerl! »Scheißbarbar, der Teufel soll ihn holen!« Er kicherte. »Ach nein… er hat ihn ja geholt! Gestern Nacht!« Und dich soll er auch noch holen! Bei diesem Gedanken warf er seinem Gegenüber einen hasserfüllten Blick zu.
Aufgeregt sah der Fremde ihn an. Erneut wollte er wissen, was in der Nacht geschehen war. Nur mit Mühe unterdrückte Fletscher seinen Zorn. Ihm war klar, worauf der Kerl hinaus wollte: Ann! Es war nicht zu übersehen, dass ihn mehr mit der Kleinen verband als die bloße Freundschaft zu Jenny. Das Mädchen hat seine Augen!
Der Fremde suchte Ann, und Fletscher würde dafür sorgen, dass er sie niemals fand. Doch dafür benötigte er Zeit. Also begann er wieder sein Gestammel.
Faselte von Schatten, Tod und Verderben und deutete mehrfach in Richtung Bucht. Er wiederholte das Ganze so lange, bis der Blonde seinen Hinweis endlich geschluckt hatte. Wie von Taranteln gestochen sprang der Fremde auf und rannte zum Strand.
Grimmig blickte Fletscher ihm nach. Ungefähr zwanzig Minuten würde der Kerl zur Bucht benötigen. Und zwanzig für den Rückweg, sobald er gemerkt hatte, dass es dort nichts gab außer Wasser und Sand. Das Mädchen wirst du mir nicht auch noch stehlen! Entschlossen machte sich Fletscher auf den Weg zu Jennys Haus. Die Kleine würde ein paar Sachen brauchen für den Ort, an den er sie bringen wollte. Blarney! Das sicherste Versteck in ganz Irland.
***
16. Dezember, im Hinterland von Cill Airne
Weit weg von der Südküste im Landesinneren ahnte man nichts von den Geschehnissen in Corkaich. Die Menschen dort waren mit kleinen Reparaturen an Häusern und Ställen beschäftigt, die das Jahr über liegen geblieben waren. Ansonsten nutzten sie den einsetzenden Schnee zum Ausruhen. Wer jetzt nicht seine Speisekammern gefüllt hatte, der würde es nun auch nicht mehr schaffen. Außerdem stand Kristianstag vor der Tür, was Besuche von fernen Verwandten und gemütliche Abende im Kreise der Familie bedeutete.
Auch Martha und Niall O'Donel erwarteten Besuch. Das alte Ehepaar bewirtschaftete gemeinsam mit dem jungen Landarbeiter Cliff eine kleine Schafsfarm im Hinterland von
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