265 - Das letzte Tabu
die verstrich.
***
Ihr Blick schien zu fragen: Wohin fahren wir?
Und sein Blick antwortete: Vertrau mir.
Sie hatten Utopia hinter sich gelassen wie einen Ort, der keinen Grund mehr zum Bleiben bot.
Nein, korrigierte sich Graulicht, es war genau anders: wie einen Ort, dessen nahe Umgebung den Grund beinhaltete, warum sie nicht bleiben durften .
Er hatte nachgedacht. Er war wieder ganz auf der Höhe - auch wenn sein Spiegelbild das Gegenteil behauptete. Seit er das wusste, blickte er in keinen Spiegel mehr.
So einfach war das. Die Welt war, wie er sie sich machte.
Auch das hatte Audrey ihn gelehrt. Auf dieselbe wortlose Weise, mit der sie nun permanent mit ihm kommunizierte.
Er hatte noch keine Frau so geliebt und begehrt wie sie. Der Tag, an dem er das letzte Tabu der Wanderer gebrochen hatte, hatte die entscheidende Wende in seinem Leben eingeleitet. Bis dahin war er mit offenen Augen blind durch die Welt getappt.
Er verhielt in Gedanken kurz bei der Metapher, die ihm gefiel. Die es auf den Punkt brachte.
Der Autopilot hielt den Schweber selbstständig auf Kurs. In Kürze würden sie ankommen, und es war gut, dass dann die Nacht wieder ihre Komplizenschaft ausüben und Audreys wahre Abstammung verschleiern konnte.
Die Heimkehr war gespickt mit Fallstricken unterschiedlichster Art. Seine Familie, alle Freunde - bis auf einen, an den er nicht mehr denken wollte, weil es ihn schier umbrachte -, lebten in den riesigen Wäldern nahe Elysium.
Elysium war anders als Utopia. Und die Wälder hier waren anders als jeder andere Wald auf dem Mars.
Jedenfalls kam es Graulicht so vor. Aber er hätte es an keinem einzigen Faktum festmachen können. Wahrscheinlich war es nur das subjektive Wohlbehagen in einer Umgebung, die er wie seine Westentasche kannte, was ihn so empfinden ließ.
Er war gespannt, wie sich Audrey in dieser Umgebung verhalten würde. Ob sie aufblühte oder…
Er wollte sich gar nicht vorstellen, dass seine Maßnahme, sie weit weg vom Zeitstrahl zu bringen, ein Misserfolg wäre. Seine Theorie war, dass die Nähe des Strahls Audrey negativ beeinflusste. Er hoffte, dass sich ein Vorfall wie mit Lobsang nie mehr wiederholen würde. Sie war jetzt gefestigt, hatte die Kraft, die sie ihm raubte, dazu genutzt, sich endgültig in dieser Welt zu etablieren.
Es war eine Hoffnung, aber woran sonst konnte er sich denn klammern? Die Schuldgefühle, auch wenn er sie zu verdrängen versuchte, nagten an ihm, unablässig, und fraßen ihn auf.
Er musste sich einzig auf Audrey konzentrieren. Ohne ihn war sie doch verloren in dieser ihr fremden und kaum verständlichen Welt. Er, Graulicht, war ihr einziger Halt. Ihr Anker.
Die Erinnerung an die Berührungen, Küsse, Zärtlichkeiten und auch wilde Leidenschaft, die sie einander geschenkt hatten, tröstete über vieles hinweg.
Aber die Wälder waren von brutaler Ehrlichkeit. Das musste er gleich nach der Ankunft bei seiner Sippe erfahren.
Keiner, nicht einmal der Kleinste, der die Frau an seiner Seite und die Schminke, mit der er falsche Pigmentierungen aufgetragen hatte, nicht durchschaute.
»Wer ist sie? Sie ist keine von hier.«
Wie sein Vater das »hier« betonte, machte unmissverständlich klar, dass er damit nicht den Wald, sondern den ganzen Planeten meinte. Ein Blick hatte genügt, um hinter die Schminke zu blicken.
Was war ich für ein Narr, mir etwas anderes zu erhoffen.
Das Baumhaus der Familie war auch Versammlungsort für alle, die zur Familie zählten. Graulichts Heimkehr hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Freunde und Nachbarn waren dazu gestoßen. Sie alle mochten Graulicht und hatten mit Stolz seinen Werdegang verfolgt. Es war, als hätte seine Weihe zum Geistwanderer auch sie geadelt, nach dem Motto: Er ging in unseren Hütten ein und aus, aß an unserem Tisch, spielte mit unseren Kindern… wir haben geholfen, ihn zu dem zu machen, was er nun ist.
Und genauso hatte er es immer empfunden.
Jetzt aber… war jeder Blick ein Fingerzeig auf seine Schuld. Sie mochten es nicht so meinen, aber er empfand es so. Als könnte ein jeder mühelos hinter seine Stirn blicken und das Verbrechen sehen, das er begangen hatte.
Aber wohin anders hätte er sich in seiner Lage wenden können?
Für die Wahrheit war hier keiner bereit. So musste er die Lüge bemühen, um überhaupt einen Hafen zu gewinnen, in dem er wieder zu sich selbst finden konnte.
»Sie kam mit einem Raumschiff von der Erde.«
»Wann? Wir haben nicht gehört, dass neue Besucher
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