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265 - Das letzte Tabu

265 - Das letzte Tabu

Titel: 265 - Das letzte Tabu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Weinland
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fort. Wohin?
    Von seiner Position aus konnte er sehen, dass die Tür zum Bad offen stand.
    Ach so…
    Er erhob sich. Auf dem Weg zu Audrey, die er im Bad vermutete, streifte sein Blick auch die Tür des Schlafraums, den Graulicht sich normalerweise mit Lobsang teilte. Auch sie stand offen.
    »Lob!«
    Zum ersten Mal beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Lobsang reagierte so wenig auf seinen Ruf, wie Audrey es getan hatte.
    Er trat in das offene Geviert der Tür. Der Schock ließ ihn taumeln. Für einen Moment zerbrach das Gespinst, das seinen Geist fügsam machte und viele Wahrheiten verschleierte.
    Audrey lehnte - nackt - mit dem schmalen Rücken gegen die Wand des kleinen Raumes. Vor ihr, zwischen ihren V-förmig geöffneten Beinen, ruhte…
    Graulicht wurde schlecht. Wie eine Eruption entlud sich sein Mageninhalt vor ihm auf den Boden. Mit tränenden Augen und nach Luft ringend, richtete er sich wieder auf und fand das Bild des Schreckens unverändert.
    Wie eingeklemmt zwischen ihren Beinen lag ein Körper, der nur noch sehr entfernte Ähnlichkeit mit Lobsang aufwies. Der Mumie war die Kleidung, die sie trug, viel zu groß, weil der Körper enorm geschrumpft und in sich zusammengefallen war. Gelbliche Augen, in denen der Blick zu etwas Unaussprechlichem geronnen war, starrten hinauf zu der Frau, die das Bündel wie liebevoll umschlungen hielt. Lobsangs Mund war ausgefranst wie der eines uralten Greises, und dasselbe betraf jeden anderen sichtbaren Flecken Haut. Schlohweiß wie gefärbtes Spinngewebe hingen ihm die Haare vom Kopf.
    Erneut zwang ein Krampf Graulicht dazu, sich nach vorn zu neigen. Aber es kam kaum noch Erbrochenes, nur gallesaurer Geschmack, der ihm die Mundhöhle füllte. Er zitterte wie Espenlaub. Seine Lippen formten erst Lobsangs, dann Audreys Namen.
    Eine Antwort erhielt er nicht. Lobsang konnte nicht mehr antworten, und Audrey… Audrey reagierte nur, indem sie den verdorrten Toten abschüttelte und sich geschmeidig erhob.
    Sie war schöner denn je. Wirklicher denn je. Als hätte sie endgültig den Weg in diese Welt gefunden. Aber sie sprach immer noch nicht.
    Graulicht wollte sich abwenden und flüchten. Was geschehen war, war selbst für ihn, den Verblendeten und Besessenen, zu viel…
    Aber ihr bloßer Blick fing ihn mühelos ein. Ein unsichtbares Lasso schlang sich um seinen Leib. Er konnte nicht fliehen.
    Sie kam zu ihm. Seufzte glücklich. Das Gesicht voller Zuneigung, die ihm signalisierte, dass er sie nicht zu fürchten brauchte. Außerdem war sie satt. Für den Moment zumindest.
    Satt? Was denke ich da? Als hätte sie ihn -
    Sie hatte . Es war unausgesprochene Gewissheit, unerklärtes Wissen. Sie brauchte ihn nur anzusehen, um ihm zu vermitteln: Es war notwendig. Es musste sein. Ich kann mich hier nicht anders halten. Aber dich hätte ich nie…
    Las er das in ihren Gedanken? Öffnete sie ihren Geist extra für ihn, damit er sie verstehen und ihr verzeihen konnte?
    Ganz allmählich schloss sich das Gespinst wieder, das sie um ihn webte. Der Schock wich einem anderen Zustand. Dennoch war Graulicht für den Rest des Tages außerstande, an etwas anderes zu denken oder etwas anderes zu tun, als sich um die sterblichen Überreste seines Freundes zu kümmern.
    Er wickelte sie in eine Folie, die er in der Küche fand. Leicht wie ein Kleinkind war Lobsang, als Graulicht ihn in die Abstellkammer trug. Es war keine Lösung, aber es bedeutete einen Aufschub.
    Er musste jetzt nachdenken, durfte nicht überstürzt handeln. Audrey war keine kaltblütige Mörderin. Offenbar hatte sie das Leben, das sie Lobsang entzog, in sich selbst aufgenommen… wie ein Akku, der wieder aufgeladen wurde.
    Bei den Bäumen!
    Graulicht flüchtete sich in die Illusion, dass Audrey von Instinkten geleitet wurde, nicht von Vorsatz und Heimtücke.
    Sie hatte getötet, wie andere aßen oder tranken, um sich am Leben zu erhalten.
    Zweifel blieben. Und Ängste. Und auch… Trauer. Um den verlorenen Freund. Doch all das wurde von Audreys Nähe, ihren Berührungen, ihren Blicken und ihrem unbedarften Lächeln mehr und mehr erstickt. Am Ende blieb nur eine vage Idee, wie weitere Katastrophen verhindert werden konnten.
    Eine Theorie, die die Praxis erst bestätigen musste. Aber Graulicht war bereit, jedes Opfer zu bringen und jede Mühe auf sich zu nehmen.
    Gegen Ende dieses Tages kreisten seine Gedanken fast nur noch um die Frau aus dem Strahl.
    Audrey wurde sein Ein und Alles. Immer mehr, mit jeder Stunde, mit jeder Sekunde,

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