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dass sie ihn in einem der Büros geschrieben hatte, wo sie, wie sie schrieb, putzte. Eine Sekunde lang glaubte er, das sei gar nicht wahr, Lola arbeite als Sachbearbeiterin oder Sekretärin in irgendeiner großen Firma. Dann sah er alles vor sich. Sah den zwischen Tischreihen geparkten Staubsauger, sah die Bohnermaschine wie eine Kreuzung aus Schwein und Bulldogge neben einer Topfpflanze stehen, sah eine riesige Fensterfront, hinter der die Lichter von Paris funkelten, sah Lola im Kittel, einem verschlissenen blauen Kittel der Reinigungsfirma, am Tisch sitzen, den Brief schreiben und vielleicht unendlich langsam eine Zigarette rauchen, sah Lolas Finger, Lolas Handgelenk, Lolas ausdruckslose Augen, sah eine andere Lola im Spiegelbild der Fensterfront, die schwerelos am Pariser Himmel schwebte wie eine gefälschte Fotografie, die gar nicht gefälscht ist, die spiegelbildlich und müde am Pariser Himmel schwebte und Botschaften aus der kältesten, eisigsten Zone der Leidenschaft schickte.
Zwei Jahre nachdem sie diesen letzten Brief geschickt hatte und sieben Jahre nachdem sie Amalfitano und ihre Tochter verlassen hatte, kam Lola nach Hause zurück und fand dort niemanden. Drei Wochen klapperte sie die alten Adressen ihres Mannes ab, die sie noch von den Absendern auf seinen Briefen kannte. Die einen machten ihr nicht auf, weil sie nicht wussten, wer sie war, oder sie schon vergessen hatten. Andere fertigten sie an der Tür ab, aus Misstrauen oder weil Lola sich einfach in der Adresse geirrt hatte. Einige wenige baten sie herein und boten ihr eine Tasse Kaffee oder Tee an, die Lola nie annahm, da sie es eilig zu haben schien, ihre Tochter und Amalfitano wiederzusehen. Anfangs verlief die Suche entmutigend und unwirklich. Sie sprach mit Leuten, an die auch sie selbst sich nicht erinnern konnte. Nachts schlief sie in einer Pension in der Nähe der Ramblas, wo ausländische Arbeiter in winzigen Zimmern dicht aufeinander hockten. Die Stadt kam ihr verändert vor, aber worin die Veränderung bestand, hätte sie nicht sagen können. Nachmittags, nachdem sie den ganzen Tag herumgelaufen war, ruhte sie sich auf den Stufen irgendeiner Kirche aus und lauschte den Gesprächen der Rein- und Rausgehenden, in der Mehrheit Touristen. Sie las Bücher auf Französisch über Griechenland und über Hexerei und gesundes Leben. Manchmal fühlte sie sich wie Elektra, die Tochter von Agamemnon und Klytämnestra, die unerkannt durch Mykene streunte, die im Pöbel, in der Masse aufgegangene Mörderin, die Mörderin, deren Geist niemand verstand, weder die Spezialisten des FBI noch die mildtätigen Leute, die eine Münze in ihre Hand fallen ließen. Dann wieder sah sie sich als Mutter von Medonte und Strophios, eine glückliche Mutter, die vom Fenster aus dem Spielen ihrer Kinder zuschaut, während im Hintergrund der blaue Himmel sich in den weißen Armen des Mittelmeers windet. Sie flüsterte: Pylades, Orest, und diese Namen schlossen die Gesichter vieler Männer ein, weniger das von Amalfitano, des Mannes, den sie jetzt suchte. Eines Abends traf sie einen ehemaligen Studenten ihres Mannes, der sie wundersamerweise wiedererkannte, als wäre er in seiner Universitätszeit in sie verliebt gewesen. Der Exstudent nahm sie mit zu sich nach Hause, sagte, sie könne so lange bleiben, wie sie wolle, richtete ihr das Gästezimmer zu ihrer alleinigen Verfügung her. Am zweiten Abend, als sie gemeinsam beim Essen saßen, umarmte sie der Exstudent, und sie ließ es geschehen, dass er sie ein paar Sekunden lang umarmte, als bräuchte sie es auch, dann wisperte sie in sein Ohr, und der Exstudent löste sich von ihr und setzte sich in einer Ecke des Wohnzimmers auf den Fußboden. Stundenlang blieben beide so, sie auf dem Stuhl und er auf dem Wohnzimmerboden, der mit einem eigenartigen dunkelgelben Parkett ausgelegt war, das aussah wie ein Teppich aus sehr feinem, geflochtenem Stroh. Die Kerzen auf dem Tisch erloschen, und da erst setzte sie sich ins Wohnzimmer, in die andere Ecke. In der Dunkelheit meinte sie ein leises Seufzen zu hören. Sie glaubte, der junge Mann würde weinen, und sein Weinen wiegte sie in den Schlaf. In den folgenden Tagen verdoppelten der Exstudent und sie ihre Suche. Als sie Amalfitano endlich sah, erkannte sie ihn nicht wieder. Er war dicker geworden und hatte weniger Haare. Sie sah ihn von weitem und zweifelte keine Sekunde, während sie auf ihn zuging. Amalfitano saß unter einer Lärche und rauchte geistesabwesend. Du hast dich
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