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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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um nach Mondragón zu trampen. Im Ort kaufte sie sich Ziegenkäse und Baguette für ein Frühstück, das sie hungrig auf dem Platz verzehrte, denn die Wahrheit ist, dass sie sich nicht einmal mehr erinnern konnte, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte. Anschließend ging sie in eine mit Bauarbeitern voll besetzte Bar und trank einen Milchkaffee. Sie hatte vergessen, für welche Uhrzeit Larrazábal sie zum Friedhof bestellt hatte, und es war ihr egal, auf die gleiche unbeteiligte Weise egal, wie Larrazábal und der Friedhof und der Ort und die zu dieser Morgenstunde zitternde Landschaft ihr egal waren. Bevor sie die Bar verließ, ging sie auf die Toilette und betrachtete sich im Spiegel. Sie ging zu Fuß zur Hauptstraße zurück und hielt den Daumen raus, bis eine Frau neben ihr hielt und fragte, wohin sie wolle. Zur Irrenanstalt, sagte Lola. Die Antwort gefiel der Frau gar nicht, dennoch ließ sie sie einsteigen. Sie fuhr in die gleiche Richtung. Besuchen Sie jemanden oder sind Sie Patientin dort, fragte sie. Ich besuche jemanden, antwortete Lola. Die Frau hatte ein schmales, leicht längliches Gesicht mit einem fast lippenlosen Mund, der ihr ein kaltes und berechnendes Aussehen verlieh, obwohl sie schöne Wangenknochen hatte und wie eine Geschäftsfrau gekleidet war, die nicht mehr unverheiratet ist, sondern sich um einen Haushalt, einen Mann und möglicherweise auch um ein Kind zu kümmern hat. Ich habe meinen Vater dort, gestand sie. Lola sagte nichts. Als sie am Eingangstor ankamen, stieg Lola aus, und die Frau fuhr allein weiter. Eine Zeitlang strich sie am Außenzaun der Anstalt entlang. Sie hörte das Wiehern von Pferden und vermutete, dass irgendwo hinter dem Wäldchen ein Reitclub oder eine Reitschule lag. Irgendwann sah sie die roten Dachziegel eines Hauses, das nicht zur Irrenanstalt gehörte. Sie lief denselben Weg wieder zurück. Dann ging sie wieder zu der Stelle des Zauns, von der aus sie den besten Blick auf den Park hatte. Als die Sonne höher stieg, sah sie eine Gruppe von Patienten, die in geschlossener Formation aus einem schiefergedeckten Seitenflügel traten, sich dann auf die Parkbänke verteilten, Zigaretten ansteckten und zu rauchen anfingen. Sie glaubte den Dichter zu erkennen. Er war in Begleitung zweier Insassen, trug eine Jeans und ein weißes, sehr weites Hemd. Sie machte ihm Handzeichen, erst zaghaft, als wären ihre Arme starr vor Kälte, dann unverhohlen, malte seltsame Zeichnungen in die noch kalte Luft, bemüht, ihren Signalen die Eindringlichkeit eines Laserstrahls zu verleihen und ihm telepathische Botschaften zu schicken. Fünf Minuten später bemerkte sie, dass der Dichter von der Bank aufstand und einer der Irren ihm in die Beine trat. Mit Mühe unterdrückte sie den Impuls zu schreien. Der Dichter drehte sich um und gab den Tritt zurück. Der Irre, der sich wieder hingesetzt hatte, bekam ihn gegen die Brust und kippte um wie vom Blitz getroffen. Der neben ihm rauchende Irre stand auf und verfolgte den Dichter etwa zehn Meter weit mit Tritten in den Hintern und Schlägen auf den Rücken. Dann kehrte er ruhig zu seinem Platz zurück, wo der andere sich erholte, sich die Brust, den Hals und den Kopf rieb, was maßlos übertrieben war, da der Tritt ihn nur an der Brust getroffen hatte. In diesem Moment beendete Lola ihre Zeichensprache. Einer der Irren auf der Bank begann zu masturbieren, und der, der sich so übertrieben angestellt hatte, wühlte in einer seiner Taschen und zog eine Zigarette heraus. Der Dichter näherte sich ihnen. Lola glaubte sein Lachen zu hören. Ein ironisches Lachen, als würde er ihnen sagen: Jungs, ihr könnt keinen Spaß vertragen. Vielleicht lachte der Dichter gar nicht. Vielleicht, schrieb Lola in ihrem Brief an Amalfitano, war es mein Wahnsinn, der lachte. Ob es ihr Wahnsinn war oder nicht, jedenfalls näherte sich der Dichter den anderen beiden und sagte etwas zu ihnen. Keiner der Irren antwortete ihm. Lola sah sie an: Die Irren betrachteten den Boden, das Leben, das auf dieser Höhe tobte, zwischen Gräsern und unter herumliegenden Erdklumpen. Ein blindes Leben, in dem alles sonnenklar war. Der Dichter dagegen betrachtete vermutlich die Gesichter seiner Leidensgenossen, erst das des einen, dann das des anderen, um auszukundschaften, ob er sich gefahrlos wieder auf die Bank setzen konnte. Was er schließlich tat. Er hob eine Hand zum Zeichen des Waffenstillstands oder der Kapitulation und setzte sich zwischen die beiden. Er hob die Hand, wie jemand,

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