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der eine zerfetzte Fahne hoch hält. Er bewegte die Finger, alle Finger einzeln, als wären sie eine brennende Fahne, die Fahne der Unbeugsamen. Und setzte sich zwischen sie und sah dann den Masturbierenden an und sagte ihm etwas ins Ohr. Diesmal hörte Lola ihn nicht, dafür sah sie deutlich, wie die linke Hand des Dichters in des anderen Bademanteldunkel verschwand. Und dann sah sie alle drei rauchen. Und sah die kunstvollen Ringe, die dem Mund und der Nase des Dichters entstiegen.
Der folgende und letzte Brief, den Amalfitano von seiner Frau bekam, hatte keinen Absender, aber trug französische Briefmarken. Lola berichtete darin von einer Unterhaltung mit Larrazábal. Herrgott, was du für ein Glück hast, sagte Larrazábal, mein Leben lang wollte ich auf einem Friedhof leben, und du bist kaum da, schon lebst du auf einem. Ein feiner Kerl, dieser Larrazábal. Er bot ihr seine Wohnung an. Er bot ihr an, sie jeden Morgen zur Irrenanstalt von Mondragón zu fahren, wo der größte und versponnenste Dichter Spaniens Entomologie studierte. Er bot ihr Geld an, ohne irgendeine Gegenleistung zu verlangen. Einen Abend lud er sie ins Kino ein. Einen anderen begleitete er sie in die Pension, um zu fragen, ob es Nachrichten von Imma gab. Eines Samstagmorgens, sie hatten sich die ganze Nacht hindurch geliebt, schlug er ihr vor, zu heiraten, und fühlte sich kein bisschen beleidigt oder blamiert, als Lola ihn daran erinnerte, dass sie bereits verheiratet war. Ein feiner Kerl, dieser Larrazábal. Er kaufte ihr auf einem Kleidermarkt einen Rock und kaufte ihr in einem Geschäft in der Innenstadt von San Sebastián teure Jeans. Er erzählte ihr von seiner Mutter, die er innig geliebt hatte, und von seinen Geschwistern, die er nicht ausstehen konnte. Nichts davon berührte Lola, oder wenn es sie berührte, dann nicht so wie von ihm erwartet. Für sie waren diese Tage wie eine gebremste Fallschirmlandung nach einer langen Reise durchs All. Sie fuhr nicht mehr täglich nach Mondragón, sondern nur noch alle drei Tage, stand dort am Zaun ohne die geringste Hoffnung, den Dichter zu sehen, höchstens irgendein Zeichen, von dem sie von vornherein wusste, dass sie es nicht verstand oder es erst Jahre später verstehen würde, wenn das alles schon nicht mehr wichtig war. Ohne ihn vorher anzurufen oder ihm einen Zettel hinzulegen, schlief sie manchmal nicht in Larrazábals Wohnung, der dann ins Auto stieg und sie auf dem Friedhof, bei der Irrenanstalt, in der Pension, wo sie zuerst gewohnt hatte, und überall dort suchte, wo sich in San Sebastián die Bettler und die Durchreisenden trafen. Das eine Mal fand er sie in der Wartehalle des Bahnhofs. Ein andermal entdeckte er sie auf einer Bank in der La-Concha-Bucht, zu einer Uhrzeit, wo dort nur die unterwegs waren, die für nichts mehr Zeit hatten, und jene, die im Gegenteil über die Zeit herrschten. Larrazábal war es, der morgens Frühstück machte. Der abends, wenn er von der Arbeit kam, das Essen kochte. Den übrigen Tag trank Lola lediglich literweise Wasser und aß ein Stück Brot oder Schmalzgebäck, das klein genug war, um in ihre Tasche zu passen, und das sie in der Bäckerei an der Ecke kaufte, bevor sie loszog. Eines Abends, als sie unter der Dusche standen, sagte sie Larrazábal, dass sie fortgehen wolle, und bat ihn um Geld für den Zug. Ich gebe dir alles Geld, das ich besitze, erwiderte er, aber ich kann es dir unmöglich geben, damit du gehst und ich dich nie wiedersehe. Lola insistierte nicht. Auf irgendeine Weise, die sie Amalfitano nicht verriet, bekam sie genau das Geld für die Fahrt, und eines Mittags stieg sie in den Zug nach Frankreich. Sie blieb eine Zeitlang in Bayonne. Sie ging nach Les Landes. Sie kehrte nach Bayonne zurück. Sie war in Pau und in Lourdes. Eines Morgens sah sie einen voll besetzten Zug mit Kranken, Paralytikern, Jugendlichen mit Hirnlähmung, Bauern mit Hautkrebs, kastilischen Bürokraten mit Krankheiten im Endstadium, sittsamen, wie barfüßige Karmeliterinnen gekleidete Großmütterchen, Menschen mit Ekzemen, blinden Kindern, und ehe sie es sich versah, begann sie ihnen zu helfen, als wäre sie eine Nonne in Bluejeans, von der Kirche dazu abgestellt, den Mühseligen beizustehen und den Weg zu weisen, die nach und nach in die Busse stiegen, die vor dem Bahnhof parkten oder lange Karawanen bildeten, als wäre jeder von ihnen die Schuppe einer grausamen alten, aber außerordentlich vitalen Riesenschlange. Dann trafen italienische Züge ein und
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