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Züge aus Nordfrankreich, und Lola ging wie eine Schlafwandlerin zwischen ihnen umher, die großen blauen Augen unfähig zu blinzeln, sehr langsam, da die angestaute Müdigkeit immer schwerer auf ihr lastete, wobei ihr alle Teile des Bahnhofs offen standen, einige davon zu Erste-Hilfe-Stationen umfunktioniert, andere zu Erholungsräumen, und ein Raum, ein einziger und zugleich der abgelegenste, zu einer improvisierten Leichenhalle, wo diejenigen lagen, deren Kräfte dem beschleunigten Verschleiß der Zugreise unterlegen waren. Abends ging sie zum Schlafen in das modernste Gebäude von Lourdes, ein Ungetüm aus Stahl, Glas und Funktionalität, das sein antennensträubendes Haupt in die weißen Wolken reckte, die dick und schwer von Norden heranzogen oder von Westen vorrückten wie ein ungeordnetes Heer, das allein seiner geballten Masse vertraute, oder sich wie die Geister toter Tiere von den Pyrenäen herabschwangen. Dort schlief sie gewöhnlich in den Müllsammelräumen, in die sie sich über ein winziges Türchen dicht am Boden Zugang verschaffte. Andere Male blieb sie, wenn das Chaos der Züge abflaute, im Bahnhof, im Bahnhofscafé, und ließ sich von alten Leutchen aus der Provinz zu einem Milchkaffee einladen und von Kino und Landwirtschaft erzählen. Eines Nachmittags meinte sie, sie sähe Imma von einem Trupp Behinderter eskortiert dem Zug aus Madrid entsteigen. Die Frau hatte Immas Statur, trug einen langen schwarzen Rock wie sie, und ihr Gesichtsausdruck, halb Mater dolorosa, halb kastilianische Nonne, glich dem von Imma genau. Lola verhielt sich still, wartete, bis sie an ihr vorbeikam, und grüßte sie nicht, und fünf Minuten später verließ sie drängelnd und stoßend den Bahnhof und das Örtchen Lourdes und lief zu Fuß bis zur Landstraße und hielt erst dort den Daumen in den Wind.
Fünf Jahre lang hörte Amalfitano nichts von Lola. Eines Nachmittags, als er mit seiner Tochter auf einem Spielplatz war, sah er eine Frau, die sich über den Holzzaun lehnte, der den Spielplatz vom übrigen Park trennte. Er glaubte Imma in ihr zu erkennen und folgte ihrem Blick, stellte aber erleichtert fest, dass ihr irrer Blick sich auf ein anderes Kind richtete. Der Junge trug kurze Hosen, war ein wenig größer als seine Tochter und hatte dunkles, sehr glattes Haar, das manchmal nach vorn fiel und sein Gesicht verdeckte. Zwischen dem trennenden Zaun und den Bänken, die die Stadtverwaltung so aufgestellt hatte, dass die Eltern ihre Kinder im Blick hatten, mühte sich eine Hecke in die Höhe, die an einer alten Eiche schon außerhalb des Spielplatzgeländes endete. Immas Hand, ihre sehnige, harte, von Sonne und eisigem Flusswasser gegerbte kleine Hand, streichelte über die frisch gestutzte Hecke, wie man einem Hund über den Rücken streicht. Bei sich hatte sie eine riesige Plastiktüte. Amalfitano näherte sich mit Schritten, die Gelassenheit ausstrahlen sollten, aber unsicher wirkten. Seine Tochter stand in der Schlange zur Rutsche. Plötzlich, bevor er Imma ansprechen konnte, sah Amalfitano, dass der Junge endlich ihre wachsame Anwesenheit bemerkt hatte, sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, den rechten Arm hob und ihr mehrmals zuwinkte. Als hätte sie nur auf dieses Zeichen gewartet, hob daraufhin Imma stumm ihren linken Arm, winkte zurück, wandte sich zum Gehen und verließ den Park durch das nördliche Tor, das auf eine befahrene Hauptstraße führte.
Fünf Jahre nach ihrem Fortgang erhielt Amalfitano eine erneute Nachricht von Lola. Der Brief war kurz und kam aus Paris. Lola schrieb, sie arbeite in großen Bürohäusern als Putzfrau. Eine nächtliche Arbeit, die um zehn Uhr abends begann und um vier, fünf oder sechs Uhr morgens endete. Um diese Zeit war Paris eine schöne Stadt, wie alle großen Städte, wenn die Leute schliefen. Sie fuhr mit der Metro nach Hause. So früh am Morgen war die Metro der traurigste Ort der Welt. Sie hatte noch ein Kind bekommen, einen Jungen, der Benoit hieß und bei ihr lebte. Außerdem war sie in einer Klinik gewesen. Sie schrieb nichts zur Art der Krankheit und ob sie wieder gesund sei. Einen Mann erwähnte sie nicht. Sie fragte auch nicht nach Rosa. Für sie ist es, als hätte es das Mädchen nie gegeben, dachte Amalfitano, sah dann aber ein, dass das nicht unbedingt stimmen musste. Er weinte eine Weile mit dem Brief in der Hand. Erst als er seine Tränen trocknete, fiel ihm auf, dass der Brief mit Maschine geschrieben war. Er hatte nicht den geringsten Zweifel,
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