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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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um die Herrlichkeit seiner Ländereien zu begutachten. Zuvor hatte er in seinem Arbeitszimmer auf dem Boden gelegen und mit einem Küchenmesser Bücherkisten geöffnet, in denen er auf ein seltsames Exemplar gestoßen war, das gekauft oder von jemandem geschenkt bekommen zu haben er sich nicht erinnern konnte. Bei dem fraglichen Buch handelte es sich um das Geometrische Vermächtnis von Rafael Dieste, 1975 bei Ediciones del Castro in La Coruña erschienen, offensichtlich ein Buch über Geometrie, eine Disziplin, von der Amalfitano fast nichts verstand, gegliedert in drei Teile, von denen der erste eine »Einführung in Euklid, Lobatschewski und Riemann« lieferte, der zweite die »Entwicklungen in der Geometrie« behandelte und der dritte unter dem Titel »Drei Beweise des V-Theorems« stand, zweifellos der geheimnisvollste Teil, denn Amalfitano hatte keine Ahnung, was das V-Theorem war oder worin es bestand, außerdem wollte er es gar nicht wissen, was aber vielleicht nicht an mangelnder Neugier lag - daran fehlte es ihm nicht -, sondern an der Hitze, die nachmittags Santa Teresa leerfegte, an der trockenen, staubigen Hitze und einer erbitterten Sonne, der man nicht entrinnen konnte, außer man lebte in einer modernen Wohnung mit Klimaanlage, was bei ihm nicht der Fall war. Die Veröffentlichung des Buches war mit Hilfe einiger Freunde zustande gekommen, Freunde, die sich auf der vierten Seite, wo normalerweise die Verlagsangaben stehen, wie für ein Abschiedsfoto verewigt hatten. Dort stand zu lesen: Die vorliegende Ausgabe stiften zu Ehren von Rafael Dieste: Ramón BALTAR DOMÍNGUEZ, Isaac DÍAZ PARDO, Felipe FERNÁNDEZ ARMESTO, Fermín FERNÁNDEZ ARMESTO, Francisco FERNÁNDEZ DEL RIEGO, Álvaro GIL VARELA, Domingo GARCÍA-SABELL, Valentín PAZ-ANDRADE und Luis SEOANE LÓPEZ. Amalfitano hielt es für eine zumindest eigenartige Sitte, die Nachnamen der Freunde in Großbuchstaben zu setzen, den des Geehrten dagegen nicht. Im Klappentext stand, Geometrisches Vermächtnis sei eigentlich drei Bücher, »alle eigenständig, aber funktional verbunden durch die übergeordnete Zielsetzung«, und weiter hieß es, »Dieses Werk bildet die letzte Kelter seiner Reflexionen und Investigationen zum Begriff des RAUMS, der doch in jeder Grundlagendebatte der Geometrie, die diesen Namen verdient, allgegenwärtig ist«. In diesem Moment meinte Amalfitano sich zu erinnern, dass Rafael Dieste Dichter war. Ein galicischer Dichter, klar, zumindest seit langem in Galicien zu Hause. Und seine Freunde, die Förderer des Buches, waren natürlich ebenfalls Galicier oder seit langem in Galicien zu Hause, wo Dieste wahrscheinlich an der Universität van La Coruña oder Santiago de Compostela unterrichtet hatte, oder vielleicht hatte er auch gar nicht an der Universität, sondern an einem Gymnasium unterrichtet, hatte fünfzehn und sechzehn Jahre alten Rabauken Geometrie beigebracht und durchs Fenster den immer trüben galicischen Winterhimmel und den wie Bindfäden niedergehenden Regen betrachtet. Die Umschlagrückseite hielt zusätzliche Informationen zu Dieste bereit. Es hieß dort: »Im Schaffen Rafael Diestes, das sich vielfältig, aber nicht zügellos, sondern zugespitzt auf die Erfordernisse einer persönlichen Entwicklung darbietet, in der poetische Schöpfung und Forschergeist gleichsam die bei den Pole desselben Horizonts bilden, schließt das vorliegende Buch am unmittelbarsten an Neue Abhandlung über den Parallelismus (Buenos Aires, 1958) sowie an jüngere Arbeiten an: Variationen über Zenon von Elea und Was ist ein Axiom?, gefolgt von Mobilität und Ähnlichkeit im selben Band.« Also hatte Dieste, dachte Amalfitano mit schweißnassem Gesicht, an dem winzige Staubkörnchen haften blieben, die Liebe zur Geometrie nicht erst spät für sich entdeckt. In diesem Licht betrachtet waren seine Förderer de facto nicht länger Freunde, die sich jeden Abend in einem Klub trafen, um bei einem Gläschen über Politik, Fußball oder Liebschaften zu plaudern, sondern mauserten sich in Lichtgeschwindigkeit zu ehrenwerten Universitätskollegen, einige sicherlich schon pensioniert, andere aber noch mit bei den Beinen im Beruf, aber alle wohlhabend oder mehr oder weniger wohlhabend, was nicht ausschloss, dass sie nicht an dem einen oder anderen Abend wie Provinz-Intellektuelle, also wie zutiefst einsame, aber auch zutiefst selbstgenügsame Menschen im Klub von La Coruña bei einem Gläschen Cognac oder Whisky zusammensaßen, um über Intrigen und

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