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Schlüssel habe, und Amalfitano sagte ja und hörte die Tür ins Schloss fallen und dann die Schritte seiner Tochter, die über die schlecht gefügten Steinplatten auf das Holztor zuging, das ihr kaum bis zur Hüfte reichte, und dann die Schritte seiner Tochter auf dem Bürgersteig, die sich in Richtung Bushaltestelle entfernten, und dann den Motor eines startenden Autos. Amalfitano ging daraufhin in den vorderen Teil seines verwahrlosten Gartens, reckte den Hals und schaute die Straße hinunter, sah aber weder ein Auto noch sah er Rosa, und er umklammerte das Buch von Dieste, das er noch immer in der Linken hielt. Anschließend schaute er in den Himmel und sah einen zu großen, zu verrunzelten Mond, obwohl die Nacht noch gar nicht angebrochen war. Dann ging er wieder in den hinteren Teil seines verödeten Gartens und stand einige Sekunden lang still, schaute nach links und rechts, vor und zurück, ob er irgendwo seinen Schatten sah, doch obwohl es noch Tag war und im Westen, Richtung Tijuana, noch die Sonne schien, konnte er ihn nirgends entdecken. Daraufhin fiel sein Blick auf vier Schnurreihen, die seitlich an einer Art verkleinertem Fußballtor - zwei in den Boden eingelassene, höchstens ein Meter achtzig hohe Pfähle und eine auf beide Enden genagelte Querstange, die den Pfählen eine gewisse Stabilität verlieh - befestigt waren, von dem aus die Schnüre zu ein paar Haken in der Hauswand liefen. Das war die Wäscheleine, an der allerdings nur eine Bluse von Rosa hing, weiß mit ockerfarbenen Stickereien am Hals, und ein paar Unterhosen und zwei noch tropfende Handtücher. In einer Ecke, in einem Backsteinschuppen, stand die Waschmaschine. Eine Weile lang stand er still da, atmete mit offenem Mund und lehnte am Querbalken. Dann ging er in den Wäscheschuppen, als bekäme er keine Luft, und nahm aus einer Plastiktüte mit dem Firmenlogo des Supermarkts, in dem er einmal die Woche mit seiner Tochter einkaufen ging, drei Wäscheklammern, die er hartnäckig »Hündchen« nannte, und mit ihnen klemmte und hängte er das Buch an eine der Leinen, woraufhin er zurück ins Haus ging und sich sehr erleichtert fühlte.
Die Idee stammte natürlich von Duchamp.
Nur ein ready-made aus seiner Zeit in Buenos Aires existiert noch oder hat überlebt. Dabei war sein ganzes Leben ein ready-made, also eine Art, das Schicksal zu besänftigen und gleichzeitig Alarmsignale auszusenden. Calvin Tomkins schreibt dazu: Als Hochzeitsgeschenk für seine Schwester Suzanne und seinen nahen Freund Jean Crotti, die am 14. April 1919 in Paris heirateten, wies Duchamp das Paar in einem Brief an, ein Geometriebuch auf dem Balkon ihrer Wohnung an Bindfäden aufzuhängen, damit der Wind »das Buch durchblättern, sich seine eigenen Probleme aussuchen, die Seiten umwenden und herausreißen« konnte. Wie man sieht, hat Duchamp in Buenos Aires nicht nur Schach gespielt. Tomkins fährt fort: Dieses Unglückliche ready-made, wie er es nannte, mag manchen Jungverheirateten als seltsam freudloses Hochzeitsgeschenk erscheinen, doch Suzanne und Jean führten Duchamps Anweisungen frohgemut aus; sie machten ein Foto von dem offenen Werk, wie es in der Luft baumelte (der einzige Nachweis für das Werk, das, den Elementen ausgesetzt, nicht überdauerte), und Suzanne malte später ein Bild davon, das sie Le readymade malheureux de Marcel nannte. Duchamp erzählte Cabanne später: »Es amüsierte mich, die Idee von glücklich und unglücklich in die ready-mades einzubringen, und dann der Regen, der Wind, die flatternden Seiten, es war eine amüsante Idee.« Ich nehme alles zurück; was Duchamp in Buenos Aires gemacht hat, war tatsächlich Schachspielen. Yvonne, mit der er zusammenlebte, war diese ganze Spiel-Wissenschaft schließlich leid und ging zurück nach Frankreich. Tomkins fährt fort: Einem Interviewer sagte Duchamp in späteren Jahren, es habe ihm Spaß gemacht, »die Ernsthaftigkeit eines Buches voller Prinzipien« herabzusetzen, und einem anderen deutete er an, dem Wetter ausgesetzt habe »das Traktat endlich ein bisschen was vom Ernst des Lebens begriffen«.
Am Abend, als Rosa vom Kino zurückkam, saß Amalfitano im Wohnzimmer vor dem Fernseher und sagte ihr bei der Gelegenheit, er habe das Buch von Dieste auf die Wäscheleine gehängt. Rosa sah ihn an, als hätte sie nicht richtig gehört. Ich wollte sagen, sagte Amalfitano, dass es nicht dort hängt, weil ich es vorher mit dem Schlauch nass gemacht habe oder es mir ins Wasser gefallen ist, ich
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