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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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habe es einfach nur so aufgehängt, um zu sehen, wie es den Unbilden der Witterung, dem Ansturm der Wüste trotzt. Ich hoffe, du wirst nicht verrückt, sagte Rosa. Nein, keine Sorge, sagte Amalfitano und machte passenderweise ein unbesorgtes Gesicht. Ich sage es dir, damit du es nicht abhängst. Nimm einfach an, das Buch würde nicht existieren. Na gut, sagte Rosa und verkroch sich in ihr Zimmer.
    Am nächsten Tag begann Amalfitano, während seine Studenten schrieben oder er selbst redete, sehr einfache geometrische Figuren zu zeichnen, ein Dreieck, ein Viereck, und an jeden Scheitelpunkt schrieb er den Namen, den ihm, sagen wir, der Zufall oder die Zerstreutheit oder die ungeheure Langeweile diktierte, die seine Studenten und seine Seminare und die in jenen Tagen in der Stadt herrschende Hitze bei ihm auslösten. So:
    Zeichnung 1
    Oder so:
    Zeichnung 2
    Oder so:
    Zeichnung 3
    Als er wieder daheim im Gehäuse saß, fiel ihm das Blatt in die Hände, und bevor er es in den Papierkorb warf, sah er es sich noch einmal genauer an. Zeichnung 1 besaß keine andere Erklärung als seine Langeweile. Zeichnung 2 war wohl eine Erweiterung von Zeichnung 1, aber die zusätzlichen Namen hielt er für schwachsinnig. Xenokrates mochte noch passen, das entbehrte nicht einer irgendwie verschrobenen Logik, auch Protagoras, aber was hatten Thomas Morus und Saint-Simon dort zu suchen, was in aller Welt ein Diderot, und was, gütiger Himmel, der portugiesische Jesuit Pedro da Fonseca, einer von Tausenden von Aristoteles-Kommentatoren, der es auch mit der Brechstange nur zu einem nicht einmal zweitklassigen Denker gebracht hatte? Zeichnung 3 dagegen besaß eine gewisse Logik, die Logik eines geistig gestörten Jugendlichen, eines in der Wüste herumlungernden, mit Lumpen bekleideten, aber immerhin bekleideten Jugendlichen. Alle Namen gehörten Philosophen, könnte man sagen, denen es um den ontologischen Gottesbeweis zu tun war. Das B am oberen Scheitelpunkt des dem Viereck überlagerten Dreiecks konnte Gott sein oder die aus seinem Wesen hervorgehende Existenz Gottes. Erst da fiel Amalfitano auf, dass auch Zeichnung 2 ein A und ein B aufwies, und nun zweifelte er nicht mehr, dass die Hitze, an die er nicht gewöhnt war, ihm das Hirn vernebelte, während er seine Seminare gab.
    Am Abend allerdings, nachdem er gegessen und die Nachrichten gesehen und mit Professorin Silvia Pérez telefoniert hatte, die sich heftig über die Art aufregte, wie die Polizei des Bundesstaates Sonora und die Ortspolizei von Santa Teresa die Untersuchung der Verbrechen führte, fand Amalfitano auf dem Tisch in seinem Arbeitszimmer drei weitere Zeichnungen. Sie stammten zweifellos von ihm. Tatsächlich erinnerte er sich, wie er zerstreut auf einem Blatt herumgekritzelt hatte, während er an andere Dinge dachte. Zeichnung 1 (oder Zeichnung 4) sah so aus:
    Zeichnung 4
    Die Zeichnung 5
    Und die Zeichnung 6
    Zeichnung 4 war erstaunlich. Trendelenburg, seit Jahren hatte er nicht mehr an ihn gedacht. Adolf Trendelenburg. Warum gerade jetzt und warum im Verbund mit Bergson, Heidegger, Nietzsche und Spengler? Zeichnung 5 erschien ihm noch erstaunlicher. Das Auftauchen Kolakowskis und Vattimos. Die Anwesenheit des vergessenen Whitehead. Vor allem aber die unerwartete Einbeziehung des armen Guyau, Jean-Marie Guyau, 1888 vierunddreißigjährig gestorben, den einige Witzbolde den französischen Nietzsche genannt haben und dessen Anhängerschaft weltweit sich auf nicht mehr als zehn Personen belief, obwohl es eigentlich nicht mehr als sechs waren, Amalfitano wusste das, weil er in Barcelona den einzigen spanischen Guyautisten kennengelernt hatte, einen schüchternen und auf seine Art schwärmerischen Professor aus Gerona, dessen ganzer Eifer der Suche nach einem Text galt, von dem nicht bekannt war, ob es sich um ein Gedicht, einen philosophischen Essay oder einen Artikel handelte und den Guyau auf Englisch geschrieben und 1886 oder 1887 in einer Zeitschrift in San Francisco, Kalifornien, veröffentlicht hatte. Zeichnung 6 schließlich war die erstaunlichste (und am wenigsten philosophische) von allen. Dass am einen Ende der Horizontale Wladimir Smirnow stand, 1938 in den Lagern Stalins verschwunden und nicht zu verwechseln mit dem 1936 nach dem ersten Moskauer Prozess von Stalinisten erschossenen Iwan Nikitich Smirnow, während am anderen Ende der Name Suslow auftauchte, Ideologe des Parteiapparats und bereit, alle Schändlichkeiten und Verbrechen zu schlucken, ließ an

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