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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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benommen von etwas, das ich gerade auf der Straße mit ansehen musste, vielleicht ein Autounfall, vielleicht ein bewaffneter Raubüberfall, vielleicht ein Selbstmord in der U-Bahn, andererseits würde ich mich doch jetzt daran erinnern, wenn ich so etwas erlebt hätte, oder zumindest eine vage Erinnerung daran behalten haben. Ich würde mich nicht an das Geometrische Vermächtnis erinnern, aber an den Zwischenfall, der mich das Geometrische Vermächtnis hat vergessen lassen, schon. Und als wäre das noch nicht genug, musste er einsehen, dass nicht die Erwerbung des Buches das Hauptproblem darstellte, sondern die Frage, wie es in eine der Kisten mit Büchern nach Santa Teresa gelangen konnte, die Amalfitano vor der Abreise in Barcelona ausgewählt hatte. In welchem Zustand von Geistesabwesenheit hatte er dieses Buch dort hineingetan? Wie hatte er ein Buch einpacken können, ohne es selbst zu merken? Wollte er es nach seiner Ankunft im Norden Mexikos lesen? Wollte er mit ihm ein ungewisses Studium der Geometrie in Angriff nehmen? Und wenn das sein Plan war, warum hatte er ihn gleich nach seiner Ankunft in dieser mitten im Nichts errichteten Stadt vergessen? Ob das Buch aus seinem Gedächtnis verschwunden war, als seine Tochter und er von Ost nach West flogen? Oder war es aus seinem Gedächtnis verschwunden, als er hier, in Santa Teresa, auf das Eintreffen seiner Bücherkisten wartete? War Diestes Buch verblasst wie die Begleiterscheinungen eines Jetlags?
    Amalfitano hatte diesbezüglich einige etwas eigenwillige Anschauungen. Er hatte sie nicht ständig, daher ist es vielleicht übertrieben, von Anschauungen zu sprechen. Es waren Gefühle. Gedankenspiele. Als träte man an ein Fenster und zwänge sich, eine außerirdische Landschaft zu sehen. Er glaubte (oder wollte gern glauben, dass er glaubte), wenn man sich in Barcelona befand, würden diejenigen, die sich in Buenos Aires oder DF aufhielten oder dort lebten, nicht existieren. Der Zeitunterschied war nur eine Maske des Verschwindens. Wenn man also von jetzt auf gleich in Städte reiste, die theoretisch nicht existieren durften oder noch nicht genügend Zeit gehabt hatten, auf die Beine zu kommen und sich zusammenzusetzen, entstand das bekannte Jetlag-Phänomen. Nicht wegen deiner Müdigkeit, sondern wegen der Müdigkeit derer, die, wenn du nicht hingefahren wärst, in diesem Moment noch schlafen müssten. Wahrscheinlich hatte er etwas Ähnliches in einem Science-Fiction-Roman oder einer Science-Fiction-Erzählung gelesen und wieder vergessen.
    Diese Gedanken oder Gefühle oder Phantastereien hatten aber auch eine erfreuliche Seite. Sie verwandelten den Schmerz der anderen in die Erinnerung eines Einzelnen. Verwandelten den Schmerz, den lange währenden, natürlichen und stets siegreichen Schmerz, in einzelne Erinnerung, die menschlich ist und kurz und sich irgendwann davonstiehlt. Verwandelten eine barbarische Geschichte von Ungerechtigkeiten und Übergriffen, ein unzusammenhängendes Geheul ohne Anfang und Ende, in eine gut strukturierte Geschichte, in der die Möglichkeit, sich umzubringen, gewahrt blieb. Verwandelten die Flucht in Freiheit, mochte die Freiheit auch nur dazu dienen, die Flucht fortzusetzen. Verwandelten das Chaos in Ordnung, wenngleich um den Preis dessen, was man gemeinhin Vernunft nennt.
    Obwohl Amalfitano später in der Universitätsbibliothek von Santa Teresa biobibliographische Angaben zu Rafael Dieste fand, die bestätigten, was er bereits intuitiv erfasst hatte - oder was ihn Don Domingo García-Sabells Vorwort intuitiv hatte erfassen lassen, das den Titel »Aufgeklärte Intuition« trug und sich den Luxus leistete, Heidegger zu zitieren (Es gibt Zeit) -, konnte er sich an jenem Nachmittag, da er wie ein mittelalterlicher Feudalherr die Brache seines geschrumpften Grund und Bodens abschritt, während seine Tochter wie eine mittelalterliche Prinzessin vor dem Badezimmerspiegel ihre Toilette verrichtete, auf keine erdenkliche Weise erinnern, warum und wo er das Buch gekauft hatte, oder wie er es eingepackt und zusammen mit anderen, vertrauteren und lieberen Exemplaren in diese bevölkerungsreiche Stadt gesandt haben könnte, die an der Grenze von Sonora und Arizona der Wüste trotzte. Und als wäre das der Startschuss für eine Reihe von Ereignissen, die teils erfreuliche, teils unheilvolle Folgen nach sich zogen, trat Rosa genau in diesem Moment aus dem Haus und sagte, sie gehe mit einer Freundin ins Kino, und fragte ihn, ob er einen

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