2666
aus, dann versank er in der Erinnerung an das vernichtete Gesicht. Er erinnerte sich (aber gewissermaßen en passant, wie man sich an einen Blitz erinnert) an Raimundus Lullus und seine grandiose Maschine. Grandios, da nutzlos. Als er wieder auf das Blatt schaute, hatte er in drei senkrechten Spalten folgende Namen aufgelistet:
Pico della Mirandola
Hobbes
Boëthius
Husserl
Locke
Alexander von Haies
Eugen Fink
Erich Becher
Marx
Merleau-Ponty
Wittgenstein
Lichtenberg
Beda Venerabilis
Lullus
Sade
Bonaventura
Hegel
Condorcet
Johannes Philoponos
Pascal
Fourier
Augustinus
Canetti
Lacan
Schopenhauer
Freud
Lessing
Eine Weile lang las Amalfitano immer wieder die Namen in horizontaler und vertikaler Richtung, von der Mitte nach außen, von unten nach oben oder in zufälliger Reihenfolge und lachte dann und dachte, alles nur ein Truismus, also eine allzu evidente Behauptung, deren Formulierung man sich folglich schenken konnte. Dann trank er ein Glas Wasser aus der Leitung, Wasser aus den Bergen von Sonora, und während er wartete, dass das Wasser seine Kehle hinunterlief, ließ das Zittern nach, ein unmerkliches Zittern, das nur er wahrzunehmen vermochte, und dachte dann an die Wasseradern der Sierra Madre, die durch eine ewige Nacht in die Stadt strömten, und dachte auch an die Wasseradern, die aus ihren näher bei Santa Teresa gelegenen Verstecken aufstiegen, und an das Wasser, das die Zähne mit einem feinen, ockerfarbenen Film überzog. Und als er das Glas Wasser getrunken hatte, blickte er aus dem Fenster und sah den länglichen, den sargähnlichen Schatten, den Diestes an der Leine hängendes Buch auf den Hof warf.
Aber die Stimme kam wieder, und diesmal sagte sie zu ihm, bat sie ihn, er solle sich wie ein Mann benehmen und nicht wie eine Schwuchtel. Schwuchtel?, sagte Amalfitano. Ja, Schwuchtel, Schwuler, Tunte, sagte die Stimme. Ho-mo-se-xu-el-ler, sagte die Stimme. Und fragte postwendend, ob er zufällig auch so einer sei. Was für einer?, sagte Amalfitano erschrocken. Ein Ho-mo-se-xu-el-ler, sagte die Stimme. Und noch bevor Amalfitano antworten konnte, beeilte die Stimme sich klarzustellen, dass sie das im übertragenen Sinne meine, dass sie nichts gegen Schwule oder Tunten habe, im Gegenteil, für einige Dichter, die sich zu dieser erotischen Neigung bekannt hätten, hege sie grenzenlose Bewunderung, von einigen Malern und einigen Beamten gar nicht zu reden. Einigen Beamten?, sagte Amalfitano. Doch, doch, sagte die Stimme, blutjunge Beamte, die es nicht lange gemacht haben. Leute, die offizielle Schriftstücke mit unbewussten Tränen befleckten. Die eigenhändig den Tod fanden. Dann blieb die Stimme stumm und Amalfitano in seinem Arbeitszimmer sitzen. Geraume Zeit später - vielleicht eine Viertelstunde später, vielleicht in der folgenden Nacht - sagte die Stimme: Nehmen wir an, ich sei dein Großvater, der Vater deines Vaters, und nehmen wir an, als solcher könnte ich dir eine persönliche Frage stellen. Mein Großvater?, sagte Amalfitano. Ja, dein Großväterchen, Großpapa, sagte die Stimme. Und die Frage lautet: Bist du schwul, wirst du diese Wohnung Hals über Kopf verlassen, bist du ho-mo-se-xu-ell, wirst du deine Tochter wecken gehen? Nein, sagte Amalfitano. Ich höre, sag, was du mir zu sagen hast.
Und die Stimme fragte: Bist du's? Bist du's?, und Amalfitano sagte nein und schüttelte dazu den Kopf. Ich werde nicht davonlaufen. Mein Rücken und die Sohlen meiner Schuhe werden nicht das Letzte sein, das du von mir siehst, sofern du etwas siehst. Und die Stimme sagte: Sehen, sehen, was man so sehen nennt, ehrlich gesagt nein. Oder nicht viel. Ich habe schon genug Stress damit, hier zu sein. Wo?, sagte Amalfitano. In deinem Haus, nehme ich an, sagte die Stimme. Mein Haus, allerdings, sagte Amalfitano. Ich verstehe schon, sagte die Stimme, aber wir sollten versuchen, uns zu entspannen. Ich bin entspannt, sagte Amalfitano, ich bin in meinem Haus. Und er dachte, warum rät sie mir, mich zu entspannen? Und die Stimme sagte: Ich glaube, das ist heute der Beginn einer langen und hoffentlich erfreulichen Freundschaft. Aber dazu ist es unerlässlich, Ruhe zu bewahren, nur die Ruhe vermag uns nicht zu verraten. Und Amalfitano sagte:
Alles andere verrät uns? Und die Stimme sagte: Ja, wirklich, ja, es ist hart, es zuzugeben, ich meine, hart, es dir gegenüber zugeben zu müssen, aber es ist die reinste Wahrheit. Also die Ethik verrät uns? Das Pflichtgefühl verrät uns? Die Ehrlichkeit verrät uns? Die Neugier
Weitere Kostenlose Bücher