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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Westen fliehende Sonne andersfarbig erscheinen ließ, Lydite und Andesite in arenitischen Gesteinsschichten, vertikale Tuffsteinsedimente und breite Basaltstreifen. Ab und zu erblickten sie einen Sonora-Kaktus, der sich an den Fels klammerte. Und jenseits erhoben sich weitere Berge und dahinter winzige Täler und dahinter noch mehr Berge bis in eine von Dunst und Nebel verhüllte Ferne, die aussah wie ein riesiger Wolkenfriedhof, hinter dem die Bundesstaaten Chihuahua, Neu-Mexiko und Texas lagen. Sie saßen auf Felsen, betrachteten die Aussicht und aßen schweigend. Rosa und Rafael sprachen nur, um die mitgebrachten Brote miteinander zu tauschen. Professor Pérez schien in Gedanken versunken. Und Amalfitano fühlte sich müde und bedrückt, bedrückt von einer Landschaft, die ihm nur für junge Menschen geeignet schien; oder für verblödete Greise oder unsensible Greise oder für boshafte Greise mit der Absicht, anderen oder sich selbst eine bis ans Lebensende unerfüllbare Arbeit aufzubürden.
    In dieser Nacht lag Amalfitano lange wach. Das Erste, was er tat, als er wieder zu Hause war, er ging in den Garten, um zu sehen, ob Diestes Buch noch dort hing. Auf der Rückfahrt hatte Frau Professor Pérez versucht, nett zu sein und ein Gespräch in Gang zu bringen, das alle vier einbezog, aber ihr Sohn schlief ein, kaum dass die Talfahrt begann, und Rosa, das Gesicht ans Seitenfenster gelehnt, tat kurz darauf das Gleiche. Nicht lange und Amalfitano folgte dem Beispiel seiner Tochter. Er träumte von der Stimme einer Frau, die nicht die Stimme von Frau Professor Pérez war, sondern die einer Französin, die ihm von Zeichen und Zahlen erzählte und von etwas, das Amalfitano nicht verstand und das die Stimme in seinem Traum »zersetzte Geschichte« nannte, oder »auseinandergenommene und wieder zusammengesetzte Geschichte«, obwohl die wieder zusammengesetzte Geschichte sich offensichtlich in etwas anderes verwandelte, in eine Randbemerkung, eine altkluge Fußnote, in ein Gelächter, das nur langsam verebbte und von einer Andesitformation zu einem Rhyolith und von dort zu einem Tuffsteinkegel sprang, und aus diesem Gemenge prähistorischer Gesteine stieg eine Art Quecksilberscheibe auf, der amerikanische Spiegel, sagte die Stimme, der traurige amerikanische Spiegel von Armut und Reichtum und unablässigen, nutzlosen Verwandlungen, der Spiegel auf hoher See, dessen Segel der Schmerz ist. Und dann wechselte Amalfitano den Traum und hörte keine Stimme mehr, was vermutlich darauf hindeutete, dass er fest schlief; er träumte, dass er sich einer Frau näherte, einer Frau, die nur aus einem Paar Beinen am Ende eines dunklen Korridors bestand, und dann hörte er, wie jemand über sein Schnarchen lachte, der Sohn von Frau Professor Pérez, und dachte: Umso besser. Als sie über die östliche Hauptstraße nach Santa Teresa hineinfuhren, um diese Uhrzeit eine Straße voller klappriger Lastwagen und schwachbrüstiger Lieferwagen, die vom Markt der Stadt Arizona oder verschiedener Städte in Arizona zurückkehrten, wachte er auf. Er hatte nicht nur mit offenem Mund geschlafen, sondern auch seinen Hemdkragen vollgesabbert. Noch besser, dachte er, viel besser. Als er mit zufriedener Miene zu Professor Pérez hinüberschaute, bemerkte er an ihr einen leichten Anflug von Traurigkeit. Außer Reichweite der Blicke ihrer beiden Kinder streichelte die Professorin leicht Amalfitanos Bein, während dieser den Kopf wandte und einen Straßenimbiss betrachtete, an dem ein Polizistenduo Bier trank, plauderte und, an den Hüften die Pistolen baumelnd, den Sonnenuntergang betrachtete, der, rot und schwarz, an einen dickflüssigen Chili-Eintopf erinnerte, dessen letzte Aufwallungen im Westen erstarben. Als sie zu Hause ankamen, war es bereits dunkel, aber der Schatten von Diestes Buch an der Leine war eindeutiger, gefestigter und vernünftiger als alles, was er in der Umgebung von Santa Teresa und in der Stadt selbst gesehen hatte, dachte Amalfitano, Bilder ohne Halt, Bilder, in denen die ganze Verwaistheit der Welt enthalten war, Fragmente, Fragmente.
    Am Abend wartete er ängstlich auf die Stimme. Er versuchte, ein Seminar vorzubereiten, merkte aber schnell, dass es ein nutzloses Unterfangen war, etwas vorzubereiten, das er bis zum Überdruss kannte. Er dachte, wenn er auf dem leeren Blatt Papier, das vor ihm lag, zu zeichnen begänne, würden erneut diese einfachen geometrischen Figuren erscheinen. Er zeichnete also ein Gesicht, dann radierte er es

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