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nicht. Er nahm einen großen Schluck aus einer Flasche Wasser (das anders schmeckte als das Wasser aus dem Hahn, aber nicht völlig anders) und fing an nachzudenken. Zuerst dachte er über den Wahnsinn nach. Über die Möglichkeit, die große Möglichkeit, dass er dabei war, den Verstand zu verlieren. Überrascht stellte er fest, dass ein solcher Gedanke (und eine solche Möglichkeit) seine Begeisterung nicht im Geringsten schmälerte. Ebenso wenig seine gute Laune. Meine Begeisterung und meine gute Laune sind unter den Schwingen eines Sturms herangewachsen, dachte er. Kann sein, dass ich den Verstand verliere, aber ich fühle mich gut, dachte er. Er bedachte die Möglichkeit, die große Möglichkeit, dass der Wahnsinn, wenn er ihm verfiel, sich verschlimmerte, und da verwandelte sich seine Begeisterung in Schmerz und Ohnmacht, vor allem aber in baldigen Schmerz und Ohnmacht für seine Tochter. Gleichsam mit Röntgenaugen überschlug er seine Ersparnisse und rechnete aus, dass Rosa mit diesem Geld nach Barcelona zurückkehren konnte und noch Geld übrig hatte, um anzufangen. Um was anzufangen? Darauf antwortete er lieber nicht. Er sah sich selbst in einem Irrenhaus in Santa Teresa oder Hermosillo sitzen, in dem einzig Frau Professor Pérez ihn gelegentlich besuchen kam und er ab und zu Briefe von Rosa erhielt, aus Barcelona, wo sie arbeitete und ihre Ausbildung beendete, wo sie einen netten, verantwortungsvollen katalanischen Jungen kennenlernte, der sich in sie verliebte, sie achtete und für sie sorgte, der zärtlich war und mit dem sie schließlich ein gemeinsames Leben führte, abends ins Kino ging und im Juli oder August nach Italien oder Griechenland fuhr, und diese Vorstellung fand er gar nicht so schlecht. Dann wandte er sich anderen Möglichkeiten zu. Selbstverständlich glaubte er nicht an Geister oder Gespenster, obwohl die Leute in seiner Kindheit im Süden Chiles von der Mechona erzählten, die auf Bäumen hockte, Reitern auflauerte, sich von ihrem Ast auf Pferdekruppen fallen ließ und den armen Viehzüchter, Viehtreiber oder Schmuggler von hinten umarmte und nicht mehr losließ, wie eine Geliebte, deren Umarmung Reiter und Pferd um den Verstand brachte, so dass sie am Schreck starben oder am Grund einer Schlucht den Tod fanden, oder sie erzählten vom Colocola oder von den Hexen, Irrlichtern und zahlreichen Kobolden, von unerlösten Seelen, Incuben, Succuben und kleineren Dämonen, die zwischen der Küstenkordillere und der Andenkordillere zu Hause waren, an die er aber nicht glaubte, nicht so sehr seiner philosophischen Ausbildung wegen (Schopenhauer, nicht zuletzt, glaubte an Geister, und Nietzsche erschien einer, der ihn um den Verstand brachte), sondern wegen seiner materialistischen Ausbildung. Er schloss daher Geister als Möglichkeit aus, zumindest solange es noch andere Fährten gab. Die Stimme mochte ein Geist sein, dafür legte er keine Hand ins Feuer, aber er versuchte, eine andere Erklärung zu finden. Nach langem Nachdenken blieb jedoch nur die Hypothese von der unerlösten Seele übrig. Er dachte an die Seherin von Hermosillo, Florita Almada, genannt La Santa. Dann an seinen Vater. Er kam zu dem Schluss, dass sein Vater, mochte er sich auch noch so sehr in einen ruhelosen Geist verwandelt haben, niemals die mexikanischen Ausdrücke verwenden würde, die die Stimme verwandt hatte, wenngleich andererseits der leicht homophobe Tenor ausgezeichnet zu ihm passte. Mit schwer zu bändigendem Glück fragte er sich, in was für einen Schlamassel er da geraten war. Am Nachmittag gab er noch zwei weitere Seminare und ging anschließend zu Fuß nach Hause. Als er über den zentralen Platz von Santa Teresa kam, sah er eine Gruppe Frauen vor dem Rathaus demonstrieren. Auf einem der Schilder las er: Nieder mit der Straflosigkeit. Auf einem anderen: Schluss mit der Korruption. Von den Lehmziegelarkaden des Kolonialgebäudes aus überwachte eine Gruppe von Polizisten die Frauen. Es handelte sich nicht um Spezialeinsatzkräfte, sondern um gewöhnliche uniformierte Ortspolizisten. Als er sich entfernte, hörte er, wie jemand seinen Namen rief. Als er sich umdrehte, sah er auf dem gegenüberliegenden Gehweg Frau Professor Pérez und seine Tochter. Er lud sie zu einer Erfrischung ein. Im Café erklärten sie ihm, mit der Demonstration werde Transparenz bei den Ermittlungen im Falle der verschwundenen und ermordeten Frauen gefordert. Frau Professor Pérez sagte, sie habe drei Feministinnen aus DF bei sich
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