2666
den Küga Chiliches gehorchten (also den chilenischen - Chiliches - Stämmen - Küga: den Leuten aus Chile. Che: Leute, wie Kilapán geflissentlich zu vermelden wusste), welche sie im Gegenzug die Wissenschaften, die Künste, die Sportarten und vor allem die Kriegskunst lehrten.« Weiter unten gestand Kilapán: »Im Jahr 1947 (Amalfitano vermutete allerdings, dass die Jahresangabe fehlerhaft war und es richtig 1974 heißen musste) öffnete ich das Grab von Kurillanka, das sich unter dem zentralen Kuralwe befand und von einer glatten Steinplatte bedeckt war. Es fanden sich darin nur eine Katankura, eine Metawe, Ente, und ein Obsidian in Form einer Pfeilspitze als Zahlungsmittel für die ›Maut‹, die Kurillankas Seele an Zenpilkawe, Charon bei den Griechen, entrichten musste, damit er ihn übers Meer zu seinem Ursprung brachte: Einer fernen Insel im Meer. Diese Stücke wurden auf die araukanischen Museen von Temuco, das zukünftige Museum Abate Molina van Villa Alegre und das araukanische Museum von Santiago, verteilt, das demnächst seine Tore für die Allgemeinheit öffnen wird.« Die Erwähnung von Villa Alegre gab das Stichwort für eine der seltsamsten Anmerkungen von Kilapán. Sie lautete: »In Villa Alegre, vormals Warakulen, ruhen die Überreste von Abt Juan Ignacio Molina, die von Italien in sein Heimatdorf überführt wurden. Er war Professor an der Universität Bologna, wo seine Statue zwischen denen von Kopernikus und Galilei am Eingang zum Pantheon der Berühmten Söhne Italiens aufragt. Molina zufolge besteht eine unzweifelhafte Verwandtschaft zwischen Griechen und Araukanern.« Dieser Molina war Jesuit und Naturalist, er lebte von 1740 bis 1829.
Kurz nach der Episode im Restaurant Los Zancudos traf Amalfitano erneut den Sohn von Dekan Guerra. Diesmal war er wie ein Cowboy gekleidet, hatte sich allerdings rasiert und roch nach Rasierwasser von Calvin Klein. Aber auch so fehlte nur der Hut, damit er aussah wie ein echter Cowboy. Die Art seiner Kontaktaufnahme war ruppig und irgendwie mysteriös. Amalfitano lief durch einen schier endlosen Flur des Instituts, der um diese Tageszeit menschenleer und düster war, als plötzlich aus einem Winkel Marco Antonio Guerra hervortrat, als hätte er ihm einen geschmacklosen Streich spielen oder ihn überfallen wollen. Amalfitano zuckte zusammen, und automatisch schnellte seine Hand vor. Ich bin es, Marco Antonio, sagte der Sohn des Dekans, derweil er seine zweite Ohrfeige empfing. Dann erkannten sie einander, ihre Mienen hellten sich auf und sie setzten ihren Weg gemeinsam fort - auf das Lichtgeviert am Ende des Korridors zu, das Marco Antonio an die Berichte von Menschen erinnerte, die im Koma lagen oder schon klinisch tot waren und erzählten, sie hätten einen dunklen Tunnel gesehen und an seinem Ende ein weißes oder gleißendes Licht; einige bezeugten sogar die Anwesenheit geliebter Verstorbener, die sie bei der Hand nahmen, sie beruhigten oder baten, besser umzukehren, da die Stunde oder der Sekundenbruchteil, in dem der Wechsel sich vollzog, noch nicht gekommen sei. Was glauben Sie, Professor? Denken sich die Leute, die dem Tod von der Schippe gesprungen sind, diesen Unsinn nur aus oder gibt es das wirklich? Sind das Träume von Leuten, die mit dem Tode ringen, oder kann das die Wahrheit sein? Keine Ahnung, sagte Amalfitano barsch, denn er hatte den Schreck noch nicht verwunden und auch keine Lust, das Treffen vom letzten Mal zu wiederholen. Na, sagte der junge Guerra, wenn Sie meine Meinung hören wollen, ich halte das für Quatsch. Die Leute sehen, was sie sehen wollen, und was die Leute sehen wollen, entspricht nie der Wirklichkeit. Die Leute sind feige bis zum letzten Atemzug. Ich sage es ihnen im Vertrauen: Von allen Lebewesen ist, grosso modo, der Mensch der Ratte am ähnlichsten.
Seiner Hoffnung (den jungen Guerra loszuwerden, sobald sie den an Jenseitserfahrungen gemahnenden Flur hinter sich hatten) zum Trotz, musste Amalfitano ihm nolens volens weiter Gesellschaft leisten, denn der Sohn des Dekans war der Überbringer einer Einladung zum Essen für den nämlichen Abend im Haus des illustren Doktor Pablo Negrete, Rektor der Universität von Santa Teresa. Er stieg also in das Auto von Marco Antonio, der ihn nach Hause fuhr und in einem Anflug von Schüchternheit, der für Amalfitano unerwartet kam, lieber draußen warten und das Auto bewachen wollte, als gäbe es in der Siedlung Diebe, während Amalfitano sich frisch machte und umzog, und seine
Weitere Kostenlose Bücher