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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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sagen können, das Säuferlein lache, weil wir glauben, es sei im Gefängnis, ohne zu merken, dass sich das Gefängnis auf der einen und das Säuferlein auf der anderen Seite befindet und dass das die Wirklichkeit ist, sosehr wir die Scheibe auch drehen mögen und den Eindruck haben, das Säuferlein sitze hinter Gittern. Ja, wir könnten sogar erraten, worüber das Säuferlein lacht: Es lacht über unsere Leichtgläubigkeit, es lacht also über unsere Augen.«
    Kurz darauf geschah etwas, das Rosa ziemlich mitnahm. Sie kam von der Universität und nutzte die Gelegenheit für einen Spaziergang, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief. Ein Junge in ihrem Alter, ein Studienkollege, hielt mit seinem Wagen neben ihr am Straßenrand und bot ihr an, sie nach Hause zu fahren. Statt einzusteigen sagte sie, sie wolle lieber in einer klimatisierten Cafeteria in der Nähe etwas Kühles trinken. Der Junge bot an, sie zu begleiten, und Rosa nahm an. Sie stieg ein und zeigte ihm, wie er fahren musste. Die Cafeteria war neu und geräumig und nach amerikanischem Vorbild L-förmig geschnitten mit Tischreihen vor großen Fensterfronten, durch die die Sonne hereinfiel. Sie unterhielten sich eine Weile über dies und das. Dann sagte der Junge, er müsse los, und stand auf. Sie verabschiedeten sich mit einem Kuss auf die Wange, und Rosa bestellte sich einen Kaffee. Dann nahm sie ein Buch über mexikanische Malerei im zwanzigsten Jahrhundert heraus und begann das Kapitel über Paalen zu lesen. Die Cafeteria war um diese Zeit halb leer. Man hörte Stimmen aus der Küche, eine Frau, die einer anderen Ratschläge gab, und die Schritte der Kellnerin, die von Zeit zu Zeit mit der Kaffeekanne herumging und den wenigen, über das Café verstreuten Gästen nachzuschenken anbot. Plötzlich sagte jemand, den sie nicht hatte kommen hören, du bist eine Nutte. Die Stimme ließ sie zusammenzucken. Sie schaute hoch in der Annahme, es handele sich um einen schlechten Scherz oder jemand habe sie verwechselt. Vor ihr stand Chucho Flores. In ihrer Verblüffung konnte sie gerade nur sagen, er solle sich setzen, aber Chucho Flores erwiderte, fast ohne die Lippen zu bewegen, sie solle aufstehen und mitkommen. Sie fragte, wohin. Nach Hause, sagte Chucho Flores. Er schwitzte und hatte einen roten Kopf. Rosa sagte, sie habe nicht vor, irgendwohin zu gehen. Daraufhin fragte Chucho Flores, wer der Junge sei, den sie geküsst habe.
    »Ein Studienkollege«, sagte Rosa, und ihr fiel auf, dass die Hände von Chucho Flores zitterten.
    »Du bist eine Nutte«, sagte er noch einmal.
    Und dann murmelte er etwas, das Rosa zuerst nicht verstand, bis sie begriff, dass er immer denselben Satz wiederholte: Du bist eine Nutte, immer und immer wieder, mit zusammengebissenen Zähnen, als kostete es ihn eine enorme Anstrengung, ihn auszusprechen.
    »Komm mit«, schrie Chucho Flores.
    »Ich gehe mit dir nirgendwohin«, sagte Rosa und schaute sich um, ob jemand etwas von der Szene, die sie boten, mitbekommen hatte. Aber niemand schaute, und das beruhigte sie.
    »Hast du mit ihm geschlafen?«, fragte Chucho Flores.
    Für einen Moment wusste Rosa nicht, wovon er sprach. Die Klimaanlage machte den Raum zu kalt, sie hatte Lust, auf die Straße zu gehen und sich von der Sonne wärmen zu lassen. Hätte sie einen Pullover oder eine Weste dabeigehabt, wäre sie hineingeschlüpft.
    »Ich schlafe nur mit dir«, sagte sie in beruhigendem Ton.
    »Du lügst«, schrie Chucho Flores.
    Die Bedienung erschien am anderen Ende der Cafeteria und kam auf sie zu, aber auf halbem Wege überlegte sie es sich anders und stellte sich hinter den Tresen.
    »Mach dich bitte nicht lächerlich«, sagte Rosa und senkte den Blick auf den Text über Paalen, sah aber nur schwarze Ameisen und dann schwarze Spinnen auf einer Kruste aus Salz. Die Ameisen kämpften gegen die Spinnen.
    »Komm mit nach Hause«, hörte sie Chucho Flores sagen. Sie fror.
    Als sie hochschaute, sah sie, dass er kurz davor war, loszuheulen.
    »Du bist meine einzige Liebe«, sagte Chucho Flores. »Ich würde alles für dich tun. Ich würde für dich sterben.«
    Einige Sekunden lang wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Vielleicht, dachte sie, war der Moment gekommen, die Beziehung zu beenden.
    »Ohne dich bin ich nichts«, sagte Chucho Flores. »Du bist alles, was ich habe. Alles, was ich brauche. Der Traum meines Lebens. Wenn ich dich verliere, ist das mein Ende.«
    Die Bedienung sah ihnen vom Tresen aus zu. Zwanzig Tische weiter trank ein

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