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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Angst, die in letzter Zeit stark zunimmt, ist die Anthropophobie, die Angst vor Menschen. Manche Indianer haben mit starker Astrophobie zu kämpfen, der Angst vor meteorologischen Phänomenen wie Donner, Blitz und Wetterleuchten. Die schlimmsten Phobien aus meiner Sicht sind aber die Pantophobie, die Angst vor allem, und die Phobophobie, die Angst vor den eigenen Ängsten. Wenn Sie sich für eine von beiden entscheiden müssten, welche wäre Ihnen lieber? Die Phobophobie, sagte Juan de Dios Martínez. Ist aber ziemlich unpraktisch, überlegen Sie sich das gut, sagte die Leiterin. Zwischen Angst vor allem und Angst vor meinen Ängsten würde ich mich für Letzteres entscheiden, Sie dürfen nicht vergessen, dass ich Polizist bin, wenn ich vor allem Angst hätte, könnte ich nicht arbeiten. Aber wenn Sie vor Ihren Ängsten Angst haben, kann Ihr Leben zu einem ständigen Kreisen um die eigene Angst werden, und wenn die Ängste dann einsetzen, entsteht ein System, das sich aus sich selbst speist, ein Zirkel, dem man schwer entkommen kann, sagte die Leiterin.
    Wenige Tage bevor Sergio González in Santa Teresa eintraf, gingen Juan de Dios Martínez und Elvira Campos miteinander ins Bett. Das ist nichts Ernstes, warnte die Leiterin den Kriminalbeamten, ich will nicht, dass du dir falsche Vorstellungen von unserer Beziehung machst. Juan de Dios Martínez versicherte ihr, dass er es ihr überlasse, die Grenzen zu setzen, und sich darauf beschränken werde, ihre Entscheidungen zu respektieren. Für die Leiterin verlief die erste sexuelle Begegnung zufriedenstellend. Als sie sich nach vierzehn Tagen wiedersahen, lief es noch besser. Manchmal war er es, der anrief, meist nachmittags, wenn sie die Klinik noch nicht verlassen hatte, und dann sprachen sie fünf bis zehn Minuten lang über das, was jeder den Tag über erlebt hatte. Treffen vereinbarten sie dann, wenn sie ihn anrief, und immer bei ihr, in Elviras Neubauwohnung in der Siedlung Michoacán, in einer Straße, in der die gehobene Mittelklasse zu Hause war, Ärzte und Rechtsanwälte, mehrere Zahnärzte und ein oder zwei Professoren. Die Treffen liefen immer nach dem gleichen Schema ab. Der Kommissar parkte seinen Wagen am Straßenrand, betrat den Fahrstuhl, in dem er die Gelegenheit nutzte, sich im Spiegel zu betrachten und festzustellen, dass sein Äußeres trotz aller Einschränkungen, die er selbst am besten kannte, tadellos war, und drückte dann kurz auf die Klingel an der Wohnungstür der Leiterin. Diese öffnete, sie begrüßten sich mit einem Händedruck oder ohne sich zu berühren, setzten sich mit einem Glas ins Wohnzimmer, betrachteten die Berge im Osten und die langsam einsetzende Dämmerung hinter den Glastüren, die auf einen großzügigen Balkon führten, auf dem außer ein paar segeltuchbezogenen Holzstühlen und einem um diese Zeit zusammengeklappten Sonnenschirm nur ein stahlgrauer Heimtrainer stand. Dann wechselten sie ohne Umschweife ins Schlafzimmer, wo sie sich drei Stunden lang dem Liebesspiel hingaben. Anschließend zog sich die Leiterin einen schwarzseidenen Morgenmantel über und verschwand im Bad. Wenn sie wieder herauskam, saß Juan de Dios Martínez bereits angezogen im Wohnzimmer und betrachtete nicht die Berge, sondern die Sterne, die man vom Balkon aus sah. Es herrschte vollkommene Stille. Manchmal wurde in einem der Nachbargärten eine Party gefeiert, dann betrachteten sie die Lichter und die Leute, die herumspazierten oder sich am Pool umarmten oder wie von einem Zufallsgenerator gesteuert die für den Abend aufgeschlagenen Zelte oder die hölzernen oder gusseisernen Lauben betraten oder verließen. Die Leiterin sagte nichts, und Juan de Dios Martínez unterdrückte den gelegentlichen Impuls, sie mit Fragen zu bestürmen oder ihr Dinge aus seinem Leben zu erzählen, die er noch niemandem erzählt hatte. Schließlich, als hätte er sie darum gebeten, erinnerte sie ihn daran, dass er gehen müsse, und der Kriminalbeamte sagte, stimmt, schaute überflüssigerweise auf seine Uhr und brach auf. Zwei Wochen später trafen sie sich wieder, und alles spielte sich genauso ab, wie beim Mal zuvor. Natürlich fanden in den Nachbarhäusern nicht immer Partys statt, und gelegentlich konnte oder wollte die Leiterin nichts trinken, aber die gedämpften Lichter waren immer dieselben, die Dämmerung und die Berge änderten sich nicht, die Sterne waren dieselben.
    In jenen Tagen fuhr Pedro Negrete nach Villaviciosa, um seinem Kumpel Pedro Rengifo einen

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