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Negativ zu verlieren (welches einen umgekehrten Prozess durchmacht), das ja prinzipiell mit dem entwickelten Foto identisch ist: Beide in den Jahren des Terrors und der Hitlerbarbarei junge Burschen, beide Veteranen des Zweiten Weltkriegs, beide Schriftsteller, beide Bürger eines bankrotten Landes, beide arme Teufel, die auf den Moment zutrieben, in dem sie sich begegnen und (auf ihre erschreckende Weise) wiedererkennen würden, Archimboldi als halbverhungerter Schriftsteller, der Schwabe als »Kulturbeauftragter« eines Dorfs, in dem Kultur ohne Zweifel zum Unwichtigsten gehörte.
Konnte es nicht sein, dass dieser armselige und (ja doch) verächtliche Schwabe in Wirklichkeit Archimboldi war? Diese Frage kam nicht von Morini, sondern von Norton. Und sie musste verneint werden, schon weil der Schwabe klein von Wuchs und schmächtig war, was sich ganz und gar nicht mit Archimboldis körperlicher Erscheinung vertrug. Viel wahrscheinlicher war da die Erklärung von Pelletier und Espinoza. Der Schwabe als Liebhaber der feudalen Dame, die freilich seine Großmutter hätte sein können. Der Schwabe als allabendlicher Besucher im Haus der Buenos-Aires-Reisenden, wie er sich an kaltem Aufschnitt, Gebäck und Tee gütlich tat. Der Schwabe, der der Witwe des Exkavalleriehauptmanns den Rücken massierte, während hinter den Fensterscheiben der Regen schäumte, ein trostloser friesischer Regen, von dem man Lust bekam, zu weinen, und der den Schwaben zwar nicht zum Weinen brachte, ihn aber erbleichen ließ, ihn erbleichen ließ und zum nächstgelegenen Fenster zog, wo er stehenblieb und hinaussah auf das, was hinter dem Schleier aus tosendem Regen lag, bis die Frau streng nach ihm rief und der Schwabe dem Fenster den Rücken kehrte, ohne zu wissen, warum er ans Fenster getreten war, was er zu sehen erwartet hatte und was genau in dem Moment, als schon niemand mehr am Fenster stand und nur ein Lämpchen mit buntem Glasschirm in einer Ecke des Zimmers flimmerte, auftauchte.
Insgesamt war es also eine recht schöne Zeit in Salzburg, und obwohl Archimboldi in diesem Jahr den Nobelpreis nicht erhielt, glitt oder trieb das Leben unserer vier Freunde weiter auf dem ruhigen Strom germanistischer Fachbereiche an europäischen Universitäten dahin, nicht ohne gelegentliche Turbulenzen, die aber letztlich nur dazu beitrugen, eine Prise Pfeffer, einen Klacks Senf, einen Schuss Essig an ihre geordneten oder zumindest äußerlich betrachtet geordneten Leben zu geben, obwohl auch sie, wie alle Menschen, ihr Kreuz zu tragen hatten, ein spannendes, phantasmatisches und phosphoreszierendes Kreuz in Nortons Fall, die des Öfteren und manchmal an der Grenze zur Geschmacklosigkeit von ihrem Exmann als einer latenten Bedrohung sprach und ihm dabei Fehler und Laster zuschrieb, die besser zu einem Ungeheuer passten, einem extrem gewalttätigen Ungeheuer, das aber nie in Erscheinung trat, bloßes Wortgetüm, Worte ohne Taten, obwohl Norton mit ihrer Erzählung zur Verkörperung dieses Wesens beitrug, das weder Espinoza noch Pelletier jemals gesehen hatten, als existierte Nortons Ex nur in ihren Träumen, bis der Franzose, scharfsinniger als der Spanier, begriff, dass diese leichtfertige Tirade, diese unendliche Litanei von Anschuldigungen vor allem Nortons Wunsch nach Bestrafung verriet, vielleicht weil sie sich schämte, einen solchen Idioten einmal geliebt und geheiratet zu haben. Hierin irrte Pelletier natürlich.
In jener Zeit führten Pelletier und Espinoza aus Sorge um den derzeitigen Zustand ihrer gemeinsamen Geliebten zwei lange Telefongespräche.
Der erste Anruf kam vom Franzosen und dauerte eine Stunde und fünfzehn Minuten. Der zweite, drei Tage später, kam von Espinoza und dauerte zwei Stunden und fünfzehn Minuten. Als sie bereits anderthalb Stunden miteinander telefonierten, sagte Pelletier, Espinoza solle auflegen, der Anruf sei zu teuer, er werde ihn sofort zurückrufen, was der Spanier kategorisch ablehnte.
Das erste, auf Pelletiers Initiative zustande gekommene Telefongespräch begann, obwohl Espinoza den Anruf erwartet hatte, ein wenig schleppend, als fiele es beiden schwer, einander zu sagen, was früher oder später gesagt werden musste. In den ersten zwanzig Minuten dominierten tragische Töne, wobei zehnmal das Wort Schicksal und vierundzwanzigmal das Wort Freundschaft fiel. Der Name von Liz Norton fiel fünfzigmal, davon neunmal vergebens. Paris wurde siebenmal erwähnt. Madrid achtmal. Das Wort Liebe fand zweimal
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