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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Aufflammen und Verlöschen der Leuchtreklame betrachtet. Als er endlich bei der Glastür anlangte und sie öffnete, spürte er, wie ihm übel wurde und eine Ohnmacht drohte. Sein erster Impuls war, nach der Zimmertür zu suchen und Hilfe zu holen oder sich mitten auf dem Flur hinfallen zu lassen. Dann aber beschloss er, dass es das Beste wäre, sich wieder ins Bett zu legen. Eine Stunde später weckten ihn das Licht, das durch die offene Glastür fiel, und sein eigener Schweiß. Er rief bei der Rezeption an und fragte, ob es eine Nachricht für ihn gebe. Nichts. Er zog sich im Bett aus und schwang sich wieder in seinen bereits aufgefalteten Rollstuhl, der neben dem Bett stand. Er brauchte eine halbe Stunde, um zu duschen und sich frische Sachen anzuziehen. Anschließend schloss er, ohne hinauszusehen, die Glastür und verließ das Zimmer in Richtung Kongress.
    Alle vier trafen sich erneut bei den Studientagen deutscher Gegenwartsliteratur in Salzburg 1996 wieder. Espinoza und Pelletier schienen sehr glücklich, Norton dagegen trat auf wie eine Eisprinzessin, gleichgültig gegen das kulturelle Angebot und die Schönheit Salzburgs. Morini hatte einen Stapel Bücher und Papiere mitgebracht, die er durcharbeiten musste, als hätte ihn die Einladung nach Salzburg in einer seiner vom Packeis der Arbeit umschlossenen Phasen ereilt.
    Alle vier waren im selben Hotel untergebracht, Morini und Norton im dritten Stock, Zimmer 305 und 311, Espinoza im fünften, Zimmer 509, und Pelletier im sechsten, Zimmer 602. Das Hotel war im wahrsten Sinne des Wortes besetzt von einem deutschen Orchester und einem russischen Chor, und auf den Treppen und in den Fluren erscholl rund um die Uhr ein konzertantes Kriegsgeheul in allen Tonlagen, als würden die Musiker nie aufhören, Ouvertüren zu trällern, oder als hätte sich im Hotel eine mentale (und musikalische) Statik gebildet, was Espinoza und Pelletier nicht im mindesten störte und Morini nicht zu bemerken schien, Norton aber zu dem Ausruf veranlasste, wegen solcher und anderer Sachen, zu denen sie lieber schweige, sei Salzburg eine Scheißstadt.
    Selbstverständlich besuchten weder Espinoza noch Pelletier Norton auch nur ein einziges Mal in ihrem Zimmer, im Gegenteil, das einzige Zimmer, dem Espinoza einmal einen Besuch abstattete, war das von Pelletier, und das einzige Zimmer, dem Pelletier zweimal einen Besuch abstattete, war das von Espinoza, beide begeistert wie Kinder über die Nachricht, die sich in den Gängen und Zusammenkünften en petit comité nicht wie ein Lauffeuer verbreitet, sondern wie eine Atombombe eingeschlagen hatte, dass nämlich Archimboldi in diesem Jahr für den Nobelpreis nominiert war, was für Archimboldianer aus aller Welt nicht nur ein Grund zum Jubeln war, sondern auch Triumph und Genugtuung bedeutete. So sehr, dass es hier in Salzburg, im Brauhaus Roter Ochse, in einer an Trinksprüchen reichen Nacht zwischen den beiden großen Lagern der Archimboldi-Forschung zum Friedensschluss kam, also zwischen der Fraktion um Morini, Pelletier und Espinoza und der Fraktion um Borchmeyer, Pohl und Schwarz, die nunmehr beschlossen, ihre jeweiligen philologischen Ansätze zu respektieren, Kräfte zu bündeln und sich nicht mehr gegenseitig das Wasser abzugraben, was konkret hieß, dass Pelletier bei den Zeitschriften, wo er an entscheidender Stelle saß, keine Artikel von Schwarz mehr verhindern würde, und Schwarz bei den Periodika, wo er, Schwarz, über eine göttliche Machtfülle verfügte, keine Aufsätze von Pelletier mehr verhindern würde.
    Morini, der Pelletiers und Espinozas Begeisterung nicht teilte, wies als Erster darauf hin, dass Archimboldi seines Wissens noch nie einen bedeutenden Preis in Deutschland bekommen habe, weder den Friedenspreis des deutschen Buchhandels noch den deutschen Kritikerpreis oder Leserpreis oder Verlegerpreis - angenommen, solche Preise existierten überhaupt -, weshalb man vernünftigerweise erwartet hätte, dass seine Landsleute, nachdem sie um Archimboldis Aussichten auf den höchsten Preis in der Welt der Literatur wussten, ihm, und sei es nur, um auf Nummer sicher zu gehen, einen nationalen Literatur- oder Förder- oder Ehrenpreis verliehen oder zumindest eine einstündige Sendung im Fernsehen gewidmet hätten, was jedoch nicht geschah und die Archimboldianer (diesmal geschlossen) sehr verärgerte, die, statt Trübsal zu blasen ob der Nichtachtung, die Archimboldi bis heute widerfuhr, ihre Anstrengungen verdoppelten, durch

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