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Freundin sie angerufen habe, um ihr zu erzählen, dass ihr Ex mit einer anderen alten Freundin zusammenlebe. Er fragte, ob sie eine enge Freundin gewesen sei. Norton verstand die Frage nicht.
»Wer war eine enge Freundin?«
»Die, die jetzt mit deinem Ex zusammenlebt«, sagte Morini.»
Sie lebt nicht mit ihm, sie hält ihn aus, was nicht dasselbe ist.«
»Ah«, sagte Morini und versuchte, das Thema zu wechseln, aber ihm fiel nichts ein.
Vielleicht, wenn ich ihr von meiner Krankheit erzählen würde, dachte er grollend. Aber das würde er nie tun.
Morini war der Erste der vier, der etwa zu dieser Zeit eine Nachricht über die Morde in Sonora las, die in Il Manifesto erschien und von einer italienischen Journalistin stammte, die nach Mexiko gefahren war, um über die zapatistische Guerilla zu berichten. Die Nachricht entsetzte ihn. Auch in Italien gab es Serienmorde, aber selten überstieg die Zahl der Opfer zehn Personen, während sie in Sonora bei weit über hundert lag.
Dann dachte er an die Korrespondentin von Il Manifesto , und er fand es seltsam, dass sie nach Chiapas, ganz im Süden des Landes, gereist war und dann doch über die Ereignisse in Sonora geschrieben hatte, das, wenn seine geographischen Kenntnisse ihn nicht trogen, im Nordosten, an der Grenze zu den Vereinigten Staaten lag. Er stellte sich vor, wie sie eine lange Fahrt im Bus von Mexiko DF bis in die nördliche Wüstenregion unternahm. Er stellte sich vor, wie müde sie nach einer Woche in den Wäldern von Chiapas war. Er stellte sich vor, wie sie mit Subcomandante Marcos sprach. Er stellte sich ihre Ankunft in der mexikanischen Hauptstadt vor. Jemand dort würde ihr erzählen, was sich in Sonora abspielte. Und statt in die nächste Maschine nach Italien zu steigen, beschloss sie, sich ein Busticket zu kaufen und die lange Fahrt nach Sonora anzutreten. Einen Moment lang spürte Morini den unbändigen Wunsch, die Journalistin auf ihrer Reise zu begleiten.
Ich würde mich unsterblich in sie verlieben, dachte er. Eine Stunde später hatte er die Sache bereits komplett vergessen.
Kurz darauf erreichte ihn eine E-Mail von Norton. Er fand es seltsam, dass sie ihm schrieb, anstatt ihn anzurufen. Sobald er aber den Brief las, verstand er, dass Norton daran gelegen war, ihre Gedanken so präzise wie möglich zu formulieren, und dass sie deshalb lieber geschrieben hatte. Sie entschuldigte sich für das, was sie ihren Egoismus nannte, einen Egoismus, der sich in der Nabelschau ihres eigenen - wirklichen oder eingebildeten - Unglücks ausdrückte. Dann schrieb sie, dass - endlich! - der noch offene Rechtsstreit mit ihrem Exmann beigelegt sei. Die dunklen Wolken über ihrem Leben hätten sich verzogen. Jetzt hätte sie Lust, glücklich zu sein und zu singen (sic). Sie sagte auch, sie habe ihn wahrscheinlich noch bis letzte Woche geliebt und könne jetzt behaupten, diesen Teil ihres Lebens definitiv hinter sich gelassen zu haben. Mit neuem Elan will ich mich wieder auf die Arbeit und auf all die kleinen Dinge konzentrieren, die Menschen glücklich machen, behauptete Norton. Und sie schrieb noch: Ich möchte, dass du, mein geduldiger Piero, als Erster davon erfährst.
Morini las den Brief dreimal. Resigniert dachte er, dass Norton sich irrte, wenn sie behauptete, ihre Liebe und ihren Exmann und alles, was sie mit ihm erlebt hatte, hinter sich gelassen zu haben. Man kann nichts hinter sich lassen.
Pelletier und Espinoza dagegen erhielten keine solche vertrauliche Mitteilung. Pelletier bemerkte etwas, das Espinoza entging. Die Ortswechsel London - Paris wurden häufiger als die Ortswechsel Paris London. Und jedes zweite Mal erschien Norton mit einem Geschenk, mit einem Essayband, einem Kunstband, mit Katalogen von Ausstellungen, die er anders nie zu Gesicht bekommen hätte, sogar mit einem Hemd oder einem Halstuch, das hatte es vorher nicht gegeben.
Ansonsten blieb alles beim Alten. Sie vögelten, gingen zusammen essen, besprachen die letzten Neuigkeiten in Sachen Archimboldi, sprachen nie über ihre gemeinsame Zukunft, und jedes Mal, wenn der Name Espinoza fiel (und es kam nicht selten vor, dass er nicht fiel), geschah dies bei beiden in einem gänzlich unvoreingenommenen, diskreten und vor allem freundschaftlichen Ton. In einigen Nächten schliefen sie sogar einer in des anderen Armen ein, ohne miteinander zu schlafen, etwas, wovon Pelletier überzeugt war, dass es das mit Espinoza nicht gab. Worin er sich aber irrte, denn die Beziehung zwischen Norton
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