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Enttäuschungen gestählt und angespornt durch die ungerechte Behandlung, die ein zivilisierter Staat nicht nur dem ihrer Meinung nach größten lebenden deutschen, sondern auch dem größten lebenden europäischen Schriftsteller zuteilwerden ließ, was eine Lawine von Veröffentlichungen zum Werk Archimboldis und sogar zur Person Archimboldis (über die kaum etwas, um nicht zu sagen gar nichts bekannt war) auslöste, wodurch sich wiederum der Kreis seiner Leser erweiterte, die mehrheitlich nicht durch das Werk des Deutschen, sondern durch das Leben oder Nicht-Leben dieses einzigartigen Schriftstellers in Bann geschlagen waren, was sich in einer Mund-zu-Mund-Propaganda und, in der Folge, in wachsenden Verkaufszahlen in Deutschland niederschlug (ein Phänomen, an dem ein gewisser Dieter Hellfeld, der jüngste Neuzugang der Gruppe von Schwarz, Borchmeyer und Pohl, nicht ganz unschuldig war), was wiederum den Anstoß zu neuen Übersetzungen oder Neuauflagen alter Übersetzungen gab und Archimboldi zwar nicht zu einem Bestsellerautor machte, ihn jedoch für zwei Wochen auf Platz neun der zehn meistverkauften Belletristik-Titel in Italien und, ebenfalls für zwei Wochen, auf Platz zwölf der zwanzig meistverkauften Belletristik-Titel in Frankreich katapultierte, und obwohl er es in Spanien nie auf eine dieser Listen schaffte, fand sich ein Verlag, der die Rechte an den wenigen in anderen spanischen Verlagen erschienenen Romanen kaufte, außerdem die an allen noch nicht ins Spanische übersetzten Büchern, und damit eine Art Bibliotheca Archimboldi ins Leben rief, die sich gar nicht schlecht verkaufte.
Auf den Britischen Inseln, das muss man klar sagen, blieb Archimboldi ein ausgesprochener Minderheitenautor.
In jenen wilden Tagen entdeckte Pelletier einen Artikel des Schwaben, den sie in Amsterdam kennenzulernen das Vergnügen gehabt hatten. Darin wiederholte er im Wesentlichen, was er ihnen bereits von Archimboldis Besuch in dem friesischen Städtchen und dem anschließenden Essen mit der vornehmen Dame und deren Buenos-Aires-Reise erzählt hatte. Der Text war im Reutlinger Morgen erschienen und enthielt eine Variante: Der Schwabe schilderte hier einen sardonisch modulierten Dialog zwischen der Frau und Archimboldi. Zum Auftakt fragte sie ihn, woher er komme. Archimboldi antwortete, er sei Preuße. Die Frau fragte, ob sein Name dem preußischen Landadel entstamme. Archimboldi antwortete, das sei wohl anzunehmen. Daraufhin murmelte die Frau den Namen Benno von Archimboldi vor sich hin, als bisse sie auf einer Goldmünze herum, um sich von ihrer Echtheit zu überzeugen. Der Name sage ihr nichts, meinte sie dann und nannte beiläufig andere Namen, ob Archimboldi die kenne. Er verneinte und sagte, er kenne von Preußen nur die Wälder.
»Jedenfalls ist Ihr Name seinem Ursprung nach italienisch«, sagte die Frau.
»Französisch«, entgegnete Archimboldi, »hugenottisch.«
Über diese Antwort musste die Frau lachen. Sie war einst bildschön gewesen, sagte der Schwabe. Und damals, im schummrigen Licht der Kneipe, schien sie es noch, obwohl ihr beim Lachen das künstliche Gebiss verrutschte und sie es mit einer Hand zurechtrücken musste. Doch wie sie es tat, das hatte Stil. Sie besaß im Umgang mit den Fischern und Bauern eine Natürlichkeit, die ihr Respekt und Zuneigung eintrugen. Sie war seit langem Witwe. Manchmal unternahm sie Ausritte in die Dünen. Andere Male lief sie aufs Geratewohl über die vom Nordseewind verblasenen Feldwege.
Als Pelletier und seine drei Freunde eines Morgens, bevor sie in die Stadt aufbrachen, in ihrem Salzburger Hotel beim Frühstück saßen, sprachen sie über den Artikel des Schwaben, und dabei gingen ihre Ansichten und Einschätzungen erheblich auseinander.
Espinoza und Pelletier vermuteten, der Schwabe sei damals, als Archimboldi seine Lesung hatte, wahrscheinlich der Liebhaber der Frau gewesen. Norton mutmaßte, der Schwabe habe je nach Stimmung oder Publikum verschiedene Versionen der Geschichte anzubieten, und es sei durchaus möglich, dass nicht einmal er selbst sich erinnern könne, was bei dieser denkwürdigen Gelegenheit gesagt worden und geschehen sei. Morini glaubte, der Schwabe sei auf eine erschreckende Weise Archimboldis Doppelgänger, sein Zwillingsbruder, das Bild, das Zeit und Zufall in das Negativ eines entwickelten Fotos verwandeln werden, eines Fotos, das allmählich immer größer wird, immer mächtiger und erdrückend schwer, ohne dabei den Zusammenhang mit seinem
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