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kannte, dem er die Leiterin wie selbstverständlich vorstellen würde, ohne großes Getue, das ist übrigens meine Freundin, die Psychiaterin Elvira Campos. Nach dem Essen würden sie vermutlich zu ihr fahren, Liebe machen und Siesta halten. Und am Abend wieder in ihren BMW oder seinen Cougar steigen, ins Kino gehen, in irgendeinem Restaurant unter freiem Himmel etwas Kühles trinken oder in einem der vielen Lokale, die es in Santa Teresa dafür gab, tanzen gehen. Teufel auch, das vollkommene Glück, dachte Juan de Dios Martínez. Elvira Campos dagegen wollte von einer Beziehung in aller Öffentlichkeit nichts wissen. Anrufe in der Klinik ja, vorausgesetzt, sie waren kurz. Private Treffen alle zwei Wochen. Ein Glas Whisky oder Wodka Absolut und nächtliche Landschaften. Aseptische Abschiede.
Noch im selben Monat, November 1994, fand man auf einer Brachfläche den halbverkohlten Leichnam von Silvana Pérez Arjona. Sie war fünfzehn Jahre alt, schlank, dunkelhäutig, eins sechzig groß. Das schwarze Haar reichte ihr bis über die Schultern, doch als man sie fand, war davon nur noch die Hälfte übrig. Gefunden wurde sie von Frauen aus der Siedlung Las Flores, die ihre Wäscheleinen am Rand der Brachfläche gespannt hatten, und sie waren es auch, die das Rote Kreuz verständigten. Der Fahrer des Krankenwagens war ein Mann von Mitte vierzig, und begleitet wurde er von einem höchstens zwanzigjährigen Sanitäter, der aussah wie sein Sohn. Bei ihrem Eintreffen fragte der ältere Pfleger die Frauen und die Schaulustigen, die sich um den Leichnam drängten, ob jemand die Tote kenne. Einige kamen nach vorn, schauten ihr ins Gesicht und schüttelten den Kopf. Niemand kannte sie. Dann, Herrschaften, würde ich an eurer Stelle lieber abhauen, sagte der ältere Sanitäter, die Bullen werden jeden verhören wollen. Er sagte das, ohne die Stimme zu heben, aber kaum hatte er ausgeredet, suchten alle das Weite. Auf den ersten Blick befand sich auf der Brache kein Mensch mehr, aber die beiden Sanitäter grinsten, weil sie wussten, dass die Leute sie aus ihren Verstecken beobachteten. Während der eine von ihnen, der jüngere, über Funk die Polizei verständigte, schlenderte der ältere auf den sandigen Straßen von Las Flores zu einem Laden, wo Tacos verkauft wurden und er die Besitzerin kannte. Er bestellte sechs Rindfleisch-Tacos, drei mit und drei ohne Rahm, alle sechs schön scharf, dazu zwei Dosen Cola. Er bezahlte und kehrte ohne Eile zum Krankenwagen zurück, wo der, der wie sein Sohn aussah, an den Kotflügel gelehnt einen Comic las. Als die Polizei eintraf, waren sie mit Essen fertig und rauchten. Drei Stunden lang ließ man die Tote auf der Brachfläche liegen. Dem Gerichtsmediziner zufolge hatte man sie vergewaltigt. Todesursache waren zwei gezielte Messerstiche ins Herz. Anschließend hatte der Täter versucht, sie zu verbrennen, um seine Spuren zu verwischen, aber offensichtlich war der Mörder ein Stümper, oder man hatte ihm Wasser für Benzin verkauft, oder er wurde von einem Gaffer gestört. Am nächsten Tag fand man heraus, dass die Tote Silvana Pérez Arjona hieß und in einer Maquiladora im Industriepark General Sepúlveda beschäftigt war, nicht weit von dem Ort entfernt, wo man sie gefunden hatte. Bis vor einem Jahr hatte Silvana bei ihrer Mutter und ihren vier Geschwistern gelebt, die alle in verschiedenen Maquiladoras der Stadt arbeiteten. Sie war die Einzige, die zur Schule ging, auf die Professor-Emilio-Cervantes-Hauptschule in der Siedlung Lamas del Taro. Aus finanziellen Gründen musste sie jedoch die Schule verlassen, und eine ihrer Schwestern besorgte ihr einen Job bei Horizon W&E, wo sie den Arbeiter Carlos Llanos kennenlernte, dessen Freundin sie wurde und in dessen Wohnung in der Calle Prometeo sie schließlich zog. Seinen Freunden zufolge war Llanos ein umgänglicher Mensch, der ein bisschen, aber nicht übertrieben viel trank und in seiner Freizeit Bücher las, was sehr unüblich war und ihm den Nimbus des Außergewöhnlichen verlieh. Nach Aussage der Mutter war es das an Llanos, was ihre Tochter verführt hatte, die abgesehen von der einen oder anderen unschuldigen Schwärmerei in der Schule vorher noch nie einen festen Freund gehabt hatte. Die Beziehung hielt sieben Monate. Es stimmt, Llanos las, und manchmal saßen beide in dem winzigen Wohnzimmer seiner Wohnung und redeten über seine Lektüren, aber Llanos trank mehr, als dass er las, und war extrem eifersüchtig und unsicher. Wenn ihre
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