2666
lesen. Mehr Glück hatten sie bei einem Fotoladen. Der Besitzer war gerade dabei gewesen, das Rollgitter herunterzulassen, als er Linda und den Unbekannten sah. Aus irgendeinem Grund hatte er gedacht, die beiden wollten ihn überfallen, und beeilte sich, seinen Laden abzuschließen und nach Hause zu gehen. Seine Beschreibung des Unbekannten war ziemlich vollständig: eins vierundsiebzig groß, Jeansjacke mit einem Abzeichen auf dem Rücken, schwarze Hose und Cowboystiefel. Die Kommissare fragten, wie das Abzeichen ausgesehen habe. Der Fotoladenbesitzer sagte, er erinnere sich nicht genau, glaube aber, wie ein Totenschädel. Juan de Dios Martínez legte ihm eine Mappe vor, erstellt von der Einsatzgruppe zur Bekämpfung von Jugendbanden (zwei Beamte, die man gerade zum Rauschgiftdezernat versetzt hatte), und zeigte ihm mehr als zwanzig Abzeichen. Der Mann erkannte das des Unbekannten sofort. Noch am selben Abend wurde eine Razzia durchgeführt, bei der zwei Dutzend Mitglieder der Gang der Kaziken ins Netz gingen. Sowohl die Kartenverkäuferin als auch der Ladenbesitzer erkannten in der Reihe der Verdächtigen einen gewissen Jesús Chimal wieder, achtzehn Jahre, sporadisch beschäftigt in einer Motorradwerkstatt in der Siedlung Rubén Daría, in der Vergangenheit mit kleineren Delikten aufgefallen. Das Verhör von Chimal führte der Polizeichef persönlich, assistiert von Epifanio Galindo und Kommissar Ortiz Rebolledo. Binnen einer Stunde gestand Chimal den Mord an Linda Vázquez. Seiner Darstellung nach war er seit drei Wochen mit dem Opfer zusammen, das er bei einem Rockkonzert am Stadtrand von EI Adobe kennengelernt hatte. Chimal verliebte sich in sie, wie er sich bisher noch nie verliebt hatte. Sie trafen sich hinter dem Rücken von Lindas Eltern. Zweimal hatte Chimal sie zu Hause besucht, als ihre Eltern nach Kalifornien verreist waren. Chimal zufolge fuhren Lindas Eltern jedes Jahr mindestens einmal nach Disneyland. Damals hatten sie im leeren Haus ihrer Eltern zum ersten Mal miteinander geschlafen. Am Abend des Verbrechens lud Chimal Linda zu einem weiteren Konzert ein, diesmal im Arenas, einem Lokal, in dem auch Boxkämpfe stattfanden. Linda sagte, sie könne nicht mitkommen. Sie liefen ein Stück, drehten eine Runde um den Block und bogen dann in die Seitenstraße ein. Dort warteten Chimals Freunde, vier Typen und eine Frau, in einem gerade gestohlenen schwarzen Peregrino. Linda kannte die Frau und zwei der Typen. Sie erzählten von dem Konzert. Sie rauchten Marihuana. Auch Linda. Sie sprachen von einem verlassenen Hof in der Nähe eines Dorfes, das die Bauern verlassen hatten. Einer der Typen schlug vor, dorthin zu fahren. Linda war dagegen. Jemand machte Linda Vorwürfe. Beschuldigte sie wegen irgendetwas. Linda wollte gehen, aber Chimal ließ sie nicht. Er forderte sie auf, ins Auto zu steigen und mit ihm zu schlafen. Linda wollte nicht. Daraufhin fingen Chimal und die anderen an, sie zu verprügeln. Am Ende erstachen sie sie, damit sie ihren Eltern nichts verraten konnte. Anhand der Angaben, die Chimal gemacht hatte, war es möglich, noch in derselben Nacht die Mittäter festzunehmen, bis auf einen, der, seinen Eltern zufolge, wenige Stunden nach dem Mord aus Santa Teresa abgehauen war. Alle Verhafteten gestanden ihre Schuld.
Ende Juli entdeckten Kinder die Reste von Marisol Camarena, achtundzwanzig Jahre, Besitzerin des Nachtclubs Los Héroes del Norte. Die Leiche steckte in einem Fass mit zweihundert Litern stark ätzender Säure. Nur die Hände und Füße waren übriggeblieben. Identifiziert werden konnte sie anhand ihrer Silikonimplantate. Zwei Tage zuvor war sie von siebzehn Individuen aus ihrer über dem Nachtclub gelegenen Wohnung entführt worden. Die Hausangestellte, die achtzehnjährige Carolina Arancibia, entging einem vermutlich ähnlichen Schicksal, indem sie sich mit der Tochter der Verstorbenen, einem zwei Monate alten Säugling, auf dem Dachboden versteckte. Von dort hörte sie die Männer reden, hörte sie lachen, hörte Schreie, Beschimpfungen, das Geräusch von mehreren startenden Autos. Den Fall leitete Kommissar Lino Rivera, der mehrere Stammkunden des Nachtclubs verhörte, aber die siebzehn Entführer und Mörder wurden nie gefunden.
Vom ersten bis zum fünfzehnten August herrschte eine Hitzewelle, und zwei weitere Tote wurden gefunden. Die erste hieß Marina Rebolledo und war dreizehn Jahre alt. Ihre Leiche lag hinter der 30. Hauptschule, in der Siedlung Félix Gómez, wenige Meter
Weitere Kostenlose Bücher