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vom Sitz der Kriminalpolizei entfernt. Sie hatte braune Haut und langes Haar, war schlank und ein Meter sechsundfünfzig groß. Sie trug dieselbe Kleidung wie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens: Gelbe Shorts, weiße Bluse, weiße Strümpfe und schwarze Schuhe. Das Mädchen hatte um sechs Uhr morgens ihre Wohnung in der Calle Mistula 38, Siedlung Veracruz, verlassen, um ihre Schwester zu begleiten, die in einer Maquiladora im Industriepark Arsenio Farrel arbeitete, und kam nicht zurück. Noch am gleichen Tag stellten die Eltern eine Vermisstenanzeige. Zwei Freunde des Mädchens im Alter von fünfzehn und sechzehn Jahren wurden festgenommen, doch nach einer Woche in Polizeigewahrsam ließ man die beiden wieder laufen. Am fünfzehnten August fand man die Leiche der dreiundzwanzigjährigen Angélica Nevares, besser bekannt unter dem Namen Jessica, bei einem westlich vom Industriepark General Sepúlveda verlaufenden Kanal mit pechschwarzem Wasser. Angélica Nevares lebte in der Siedlung Plata und war Tänzerin im Nachtclub Mi Casita. Sie hatte daneben auch im Nachtclub Los Héroes del Norte als Tänzerin gearbeitet, deren Besitzerin, Marisol Camarena, kürzlich in einem Säurefass gefunden worden war. Angélica Nevares stammte aus Culiacán im Bundesstaat Sinaloa und lebte seit fünf Jahren in Santa Teresa. Am sechzehnten August klang die Hitzewelle ab, und ein etwas kühlerer Wind wehte aus den Bergen.
Am siebzehnten August wurde die Lehrerin Perla Beatriz Ochoterena, achtundzwanzig, gebürtig aus dem Dorf Morelos im Grenzgebiet der Bundesstaaten Sonora und Chihuahua, in ihrem Zimmer tot aufgefunden, erhängt an einem Seil. Perla Beatriz Ochoterena unterrichtete an der 20. Hauptschule und war nach Aussage von Freunden und Bekannten ein liebenswerter und fröhlicher Mensch. Sie lebte in einer Wohnung in der Calle Jaguar, zwei Straßen von der Avenida Carranza entfernt, die sie sich mit zwei Lehrerkolleginnen teilte. In ihrem Zimmer gab es viele Bücher, vorwiegend Gedichtbände und Essays, die Perla Beatriz Ochoterena per Nachnahme in DF oder Hermosillo bestellte. Ihre Mitbewohnerinnen schilderten sie als sensible, intelligente Frau, die fast bei null angefangen hatte (Morelos in Sonora ist ein hübsches, aber winziges Dorf, in dem es außer fotogenen Landschaften nichts gibt) und sich alles, was sie besaß, hart erarbeitet hatte. Sie sagten auch, dass sie gern schrieb und einige ihrer Gedichte unter Pseudonym in einer Literaturzeitschrift in Hermosillo erschienen waren. Den Fall übernahm Juan de Dios Martínez, der sich auf Anhieb sicher war, dass es sich hier um Selbstmord handelte. Auf dem Schreibtisch der Lehrerin fand man einen Brief ohne Anschrift, in dem sie zu erklären versuchte, warum sie das, was in Santa Teresa geschah, nicht länger ertragen konnte. Sie schrieb: All die toten Mädchen. Es war ein ergreifender Brief, dachte Juan de Dios Martínez, auch ein wenig kitschig. Sie schrieb: Ich ertrage es nicht länger. Und: Ich versuche zu leben wie alle anderen, aber wie geht das? Der Kommissar suchte unter ihren Papieren nach einem Gedicht von ihr, fand aber keins. Er notierte sich einige Titel aus ihrer Bibliothek. Er fragte ihre Mitbewohnerinnen, ob die Lehrerin einen Freund gehabt habe. Sie sagten, sie hätten sie nie mit einem Mann zusammen gesehen. Perla Beatriz Ochoterena war verschwiegen in einem Maß, das die Geduld ihrer Freunde manchmal arg strapazierte. Sie schien sich ausschließlich für ihren Unterricht, ihre Schüler und ihre Bücher zu interessieren. Sie besaß wenig Kleidung. Sie war reinlich und fleißig und beschwerte sich nie. Juan de Dios Martínez wollte wissen, was sie damit meinten, dass sie sich nie beschwerte. Die Mitbewohnerinnen gaben ein Beispiel: Manchmal vergaßen sie ihren Teil der Hausarbeit, Abwaschen oder Putzen oder solche Sachen, und dann erledigte sie das, ohne es später jemandem vorzuhalten. Sie machte überhaupt nie jemandem Vorhaltungen, Vorwürfe und Anklagen schienen in ihrem Leben keinen Platz zu haben.
Am zwanzigsten August wurde auf einer Brachfläche nahe dem Westfriedhof eine weitere Frauenleiche gefunden. Das Opfer war zwischen sechzehn und achtzehn Jahre alt und hatte keinerlei Papiere bei sich. Die Tote, die bis auf eine weiße Bluse nackt war, hatte man in eine alte, mit schwarzen und roten Elefanten bedruckte gelbe Decke gewickelt. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergab, dass der Tod durch zwei Stichwunden am Hals und eine weitere direkt neben dem
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