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unter hundert Millionen Mexikanern?
Im September gab es fast keine Morde an Frauen. Es gab Schlägereien. Es gab Schiebereien und Verhaftungen. Es gab Feste und heiße, schlaflose Nächte. Es gab kokainbeladene Lastwagen, die durch die Wüste fuhren. Es gab Cessnas, die dicht über der Wüste dahinflogen wie Geister katholischer Indianer, die willens waren, jedem den Hals umzudrehen. Es gab geflüsterte Gespräche und Gelächter und Drogenballaden, die schwer einschlugen. Am letzten Tag im September jedoch fand man kurz vor Pueblo Azul die Leichen zweier Frauen. Das Gelände dort wurde von den Motorradfahrern aus Santa Teresa dafür genutzt, Rennen auszutragen. Die beiden Frauen trugen Hauskleidung, die eine sogar Pantoffeln und Morgenmantel. Bei den Leichen fanden sich keine Papiere, anhand derer sie hätten identifiziert werden können. Den Fall übernahmen die Kommissare José Márquez und Carlos Marín, die aufgrund der Kleidermarken vermuteten, dass es sich um US-Amerikanerinnen handelte. Sie informierten die Polizei von Arizona, und am Ende stellte sich heraus, dass die Toten die Schwestern Reynolds aus Rillito in der Umgebung von Tucson waren, Lola und Janet Reynolds, dreißig beziehungsweise vierundvierzig Jahre alt, beide wegen Drogenhandels vorbestraft. Das Übrige reimten sich Márquez und Marín zusammen: Die Schwestern waren das Geld für eine Lieferung schuldig geblieben, nicht viel, da sie keine großen Mengen verschoben, und hatten dann vergessen zu zahlen. Vielleicht waren sie gerade knapp bei Kasse, vielleicht waren sie übermütig geworden (der Polizei von Tucson zufolge hatte Lola Haare auf den Zähnen), vielleicht hatten ihre Lieferanten nach ihnen gesucht, waren nachts gekommen, als sie gerade ins Bett gehen wollten, hatten sie vielleicht über die Grenze gebracht und sie dann in Sonora umgebracht, oder hatten vielleicht beiden, verschlafen wie sie waren, schon in Arizona eine Kugel in den Kopf gejagt, dann die Grenze überquert und sie in der Nähe von Pueblo Azul aus dem Auto geworfen.
Im Oktober entdeckte man in der Wüste südlich von Santa Teresa zwischen zwei Nebenstraßen die Leiche einer weiteren Frau. Die Tote befand sich im Zustand fortgeschrittener Verwesung, und den Gerichtsmedizinern zufolge konnte es Tage dauern, die Todesursache festzustellen. Die Tote hatte rotlackierte Fingernägel, was die ersten am Tatort eintreffenden Polizisten zu der Annahme verleitete, es handele sich um eine Prostituierte. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, war sie jung: Jeans und Bluse mit Ausschnitt. Obwohl es durchaus auch sechzigjährige Frauen gab, die so herumliefen. Als das gerichtsmedizinische Gutachten endlich eintraf (wahrscheinlich Tod durch Erstechen), erinnerte sich schon niemand mehr an die Unbekannte, nicht einmal die Medien, und die Leiche wurde unverzüglich beigesetzt.
Ebenfalls im Oktober traf Jesús Chimal, Mitglied der Gang der Kaziken und verantwortlich für den Tod von Linda Vázquez, in der Strafanstalt von Santa Teresa ein. Obwohl es jeden Tag Neuankömmlinge gab, sorgte die Ankunft des jungen Mörders für unerhörtes Aufsehen in der inhaftierten Bevölkerung, als würde eine berühmte Sängerin oder der Sohn eines Bankiers zu Besuch kommen, um ihnen wenigstens ein Wochenende lang Freude zu bereiten. Klaus Haas spürte die Erregung in den Gängen und fragte sich, ob das bei seinem Eintreffen damals genauso gewesen war. Nein, diesmal war die Erwartung eine andere. Etwas daran ließ einem die Haare zu Berge stehen, etwas daran wirkte erleichternd. Die Häftlinge sprachen das Thema nicht direkt an, aber irgendwie schwang es mit, wenn sie über Fußball und Baseball sprachen. Wenn sie über ihre Familien sprachen. Über Kneipen und Nutten, die nur in ihrer Einbildung existierten. Sogar das Benehmen einiger besonders streitlustiger Strafgefangener besserte sich. Als wollten sie nicht unwürdig erscheinen. Aber in wessen Augen unwürdig?, fragte sich Haas. Chimal erwarteten sie. Sie wussten, dass er kommen würde. Sie wussten, welche Zelle er belegen würde, und sie wussten, dass er die Tochter reicher Leute umgebracht hatte. Tequila zufolge waren die Gefangenen, die zur Gang der Kaziken gehört hatten, die Einzigen, die sich von dem ganzen Theater fernhielten. Am Tag von Chimals Ankunft waren sie auch die Einzigen, die zu seiner Begrüßung erschienen. Chimal kam übrigens nicht allein. Er wurde von den drei anderen begleitet, die wegen Mordes an Linda Vázquez verhaftet worden
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