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Ohrläppchen verursacht worden war. In einer ersten Erklärung behauptete die Polizei, es läge keine Vergewaltigung vor. Der mit der Autopsie betraute Gerichtsmediziner sagte jedoch gegenüber der Presse, dass die beteiligten Pathologen der Polizei und der Universität von Santa Teresa in der Frage der Vergewaltigung nie im Zweifel gewesen seien und sich in ihrem ersten (und einzigen) offiziellen Bericht auch so geäußert hätten. Der Polizeisprecher erklärte, schuld an dem Missverständnis seien Interpretationsprobleme in Verbindung mit dem erwähnten Bericht. Der Fall wurde von José Márquez betreut und kam bald zu den Akten. Die Unbekannte wurde in der zweiten Septemberwache in einem Sammelgrab beigesetzt.
Warum hatte sich die Lehrerin Ochoterena umgebracht? Nach Ansicht von Elvira Campos war sie vermutlich depressiv. Vielleicht kündigte sich bei ihr gerade der Ausbruch einer Psychose an. Sicher war sie eine einsame, hochsensible Frau. Juan de Dios Martínez nannte einige der eher zufällig notierten Titel aus ihrer Bibliothek. Hast du irgendeins dieser Bücher gelesen?, fragte die Leiterin. Kein einziges, gestand Juan de Dios. Es sind gute Bücher, zum Teil schwer zu bekommen, zumindest hier in Santa Teresa. Sie ließ sie sich aus DF kommen, sagte Juan de Dios.
Die nächste Tote war Adela García Ceballos, zwanzig Jahre alt, Arbeiterin in der Maquiladora Dun-Corp, erstochen in der Wohnung ihrer Eltern. Der Mörder, Rubén Bustos, zweiundzwanzig, hatte bis zuletzt mit Adela in der Calle Taxqueña 56, Siedlung Mancera, gewohnt und zusammen mit ihr einen einjährigen Sohn. Seit einer Woche steckte die Beziehung in der Krise, und Adela war zu ihren Eltern gezogen. Bustos zufolge wollte seine Frau ihn wegen eines anderen Mannes verlassen. Bustos' Festnahme gestaltete sich relativ einfach. Er hatte sich in seiner Wohnung in der Siedlung Mancera verschanzt, besaß zu seiner Verteidigung aber nur ein Messer. Warnschüsse abfeuernd drang Kommissar Ortiz Rebolledo in die Wohnung ein, und Bustos flüchtete sich unters Bett. Die Polizisten umzingelten das Bett und drohten, ihn mit ihren Kugeln zu durchsieben. Lalo Cura befand sich unter den Polizisten. Ab und zu fuhr Bustos' Arm unter dem Bett hervor, in der Hand den Dolch, mit dem er Adela getötet hatte, und versuchte, ihre Knöchel zu erwischen. Die Polizisten lachten und wichen zurück. Einer sprang auf das Bett, und Bustos versuchte, das Messer durch die Matratze zu stoßen, um ihn an den Füßen zu treffen. Einer der Beamten, ein gewisser Cordero, im Dritten Kommissariat berühmt für die Größe seines Gemächts, holte seinen Schwanz heraus, zielte und pisste genau unter das Bett. Bustos sah den Urin am Boden auf sich zulaufen, bis er ihn erreichte, und fing an zu heulen. Endlich hatte Ortiz Rebolledo genug gelacht und sagte, wenn er nicht sofort rauskomme, werde er ihn an Ort und Stelle abknallen. Die Polizisten sahen ein Häufchen Elend unter dem Bett hervorkriechen, das sie in die Küche schleiften. Dort füllte einer einen Topf mit Wasser und schüttete ihn über ihm aus. Ortiz Rebolledo packte Cordero am Kragen und drohte, wenn sein Wagen hinterher auch nur ein bisschen nach Pisse rieche, werde er dafür büßen. Obwohl er kaum Luft bekam, lachte Cordero und beteuerte, das werde nicht geschehen. Aber was, wenn er sich selbst vollmacht, Chef?, krächzte er. Ich kann Pisse am Geruch genau auseinanderhalten, sagte Ortiz Rebolledo. Die Pisse von diesem Arschloch dürfte nach Angst riechen, deine stinkt nach Tequila. Als Cordero in die Küche kam, heulte Bustos noch immer. Schluchzend sagte er etwas über seinen Sohn. Sprach von den Eltern, wobei unklar blieb, ob er von seinen Eltern oder den Eltern Adelas sprach, die Zeugen des Mordes geworden waren. Cordero kippte ihm einen weiteren Topf Wasser über den Kopf, und dann noch einen. Die Hosenbeine der Polizisten, die Bustos in Schach hielten, waren klatschnass, ihre schwarzen Schuhe ebenso.
Was genau konnte die Lehrerin nicht ertragen?, fragte Elvira Campos. Das Leben in Santa Teresa? Die Morde in Santa Teresa? Dass minderjährige Mädchen ums Leben kamen, ohne dass jemand etwas dagegen unternahm? Reichte das aus, um eine junge Frau in den Selbstmord zu treiben? Würde sich ein studierter Mensch wegen so etwas umbringen? Würde sich eine Frau vom Land, die hart hatte arbeiten müssen, um Lehrerin zu werden, wegen so etwas umbringen? Eine unter tausend? Eine unter hunderttausend? Eine unter einer Million? Eine
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