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Viertels. Als hätte zwischen dem Maler und dem Viertel eine vollständige Symbiose stattgefunden. Manchmal nämlich schien es, als malte der Maler das Viertel, dann wieder, als malte das Viertel den Maler mit seinen wilden, düsteren Strichen. Die Bilder waren nicht schlecht. Trotzdem, die Ausstellung hätte weder diesen Erfolg noch dieses Echo gefunden, wäre da nicht das Star-Gemälde gewesen, deutlich kleiner als die anderen, das Meisterwerk, das Jahre später etliche britische Künstler auf die Fährte des Neuen Dekadentismus lockte. Dieses zwei mal ein Meter große Bild war, richtig betrachtet (obwohl niemand sicher sein konnte, dass er es richtig betrachtete), eine Überblendung von Selbstbildnissen oder auch eine Spirale von Selbstbildnissen (je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtete), in deren Mittelpunkt die mumifizierte rechte Hand des Malers hing.
Folgendes war passiert. Eines Morgens, nach zweitägiger fieberhafter Arbeit an den Selbstporträts, hatte sich der Maler die Hand, mit der er malte, abgeschnitten. Dann hatte er sich den Arm mit einer Aderpresse abgebunden und die Hand zu einem Präparator gebracht, den er kannte und der bereits über die Art der neuen Arbeit, die ihn erwartete, informiert war. Anschließend fuhr er ins Krankenhaus, wo die Blutung gestillt und der Armstumpf vernäht wurde. Irgendwann fragte jemand, wie es zu dem Unfall gekommen sei. Er antwortete, er habe sich bei der Arbeit mit einem Hackmesser aus Versehen die Hand abgeschnitten. Die Ärzte fragten nach dem Verbleib der Hand, da ja immerhin die Möglichkeit bestand, sie wieder anzunähen. Er sagte, er habe sie aus Schmerz und purer Wut auf der Fahrt zum Krankenhaus in den Fluss geworfen.
Obwohl die Preise exorbitant hoch waren, verkaufte er die gesamte Ausstellung. Das Meisterwerk zusammen mit vier der großformatigen Gemälde sicherte sich, wie es hieß, ein Araber, der an der Börse arbeitete. Kurz darauf wurde der Maler wahnsinnig, und seine Frau, denn er war damals bereits verheiratet, sah sich gezwungen, ihn in ein Sanatorium in der Nähe von Lausanne oder Montreux zu bringen.
Dort ist er noch.
Die Künstler jedoch begannen das Viertel zu bevölkern. In erster Linie, weil es billig war, dann aber auch, weil die Legende jenes Mannes sie anzog, der das radikalste Selbstbildnis der letzten Jahre gemalt hatte. Danach kamen die Architekten und danach einige Familien, die sanierte, umgebaute Wohnungen kauften. Danach schossen Modeläden, Off-Theater und Szene-Restaurants aus dem Boden, und eins der scheinbilligsten und schicksten Viertel von London entstand.
»Wie findest du die Geschichte?«
»Ich weiß nicht recht«, sagte Morini.
Der Wunsch, zu weinen oder wenigstens in Ohnmacht zu fallen, hielt an, aber er riss sich zusammen.
Den Tee tranken sie in Nortons Wohnung. Erst jetzt begann sie von Espinoza und Pelletier zu sprechen, jedoch auf eine beiläufige Art, als wäre die altbekannte Geschichte mit dem Franzosen und dem Spanier nicht interessant oder nicht zuträglich für Morini (dessen nervliche Verfassung ihr nicht verborgen geblieben war, obwohl sie sich hütete, ihn darauf anzusprechen, wohl wissend, dass man solche Beklemmung selten durch Fragen lindert), nicht einmal für sie selbst.
Der Nachmittag verlief sehr angenehm. Morini - in einem Sessel, von dem aus er Nortons Wohnzimmer im Blick hatte, mit ihren Büchern und gerahmten Reproduktionen, die an den weißen Wänden hingen, mit ihren Fotos und geheimnisvollen Souvenirs, mit ihrem Eigensinn, der sich in so einfachen Dingen wie der Zusammenstellung der geschmackvollen, gemütlichen und kein bisschen protzigen Möbel ausdrückte, und sogar ein Stück der von Bäumen gesäumten Straße, die die Engländerin sicherlich jeden Morgen sah, bevor sie das Haus verließ - begann sich gut zu fühlen, als würde eine multiple Anwesenheit seiner Freundin ihn warm zudecken, als wäre ihre Anwesenheit auch ein Gutzureden, dessen einzelne Worte ihm wie einem Säugling unverständlich blieben, ihn aber trösteten. Kurz bevor er aufbrach, fragte er sie nach dem Namen des Malers, dessen Geschichte er gerade gehört hatte, und ob sie den Katalog dieser glücklichen und entsetzlichen Ausstellung besäße. Er heißt Edwin Johns, sagte Norton. Dann stand sie auf und suchte kurz in einem der überquellenden Bücherregale. Sie zog einen dicken Katalog heraus und reichte ihn dem Italiener. Der fragte sich, bevor er ihn aufschlug, ob es klug war, auf dieser Geschichte
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