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Norton auf, und diese sagte:
»Es gibt keinen Rückweg.«
Den Satz hörte er nicht mit den Ohren, sondern direkt im Gehirn.
Norton besitzt jetzt telepathische Fähigkeiten, dachte Morini. Sie ist nicht schlecht, sie ist gut. Es ist nicht Bosheit, was ich gespürt habe, sondern Telepathie, sagte er zu sich selbst, um einem Traum eine andere Wendung zu geben, den er in seinem Innersten als unabänderlich und schicksalhaft erkannte. Dann wiederholte die Engländerin auf Deutsch: Es gibt keinen Rückweg. Und paradoxerweise kehrte sie ihm den Rücken, entfernte sich vom Schwimmbad und verschwand in einem nur schemenhaft im Nebel sich abzeichnenden Wald, von dem ein roter Glanz ausging, und in diesem roten Glanz verschwand Norton.
Eine Woche später, nachdem er den Traum auf mindestens vier verschiedene Arten gedeutet hatte, flog Morini nach London. Die Entscheidung zu dieser Reise stand in fundamentalem Widerspruch zu seiner festen Angewohnheit, nur Konferenzen und Kongresse zu besuchen, bei denen Flug und Hotel von den Veranstaltern bezahlt wurden. Diesmal gab es jedoch keinen beruflichen Anlass, und sowohl Flug als auch Unterkunft gingen auf seine Kappe. Man kann auch nicht sagen, dass er auf einen Hilferuf von Liz Norton reagiert hätte. Er rief einfach vier Tage vorher bei ihr an und sagte, er plane eine Reise nach London, wo er schon lange nicht mehr gewesen sei.
Norton zeigte sich hocherfreut über die Idee und bot ihm an, bei ihr zu wohnen, aber Morini log, er habe sein Hotelzimmer bereits reserviert. Als er am Flughafen Gatwick eintraf, erwartete ihn Norton. An diesem Tag frühstückten sie gemeinsam in einem Restaurant ganz in der Nähe von Morinis Hotel und aßen in Nortons Wohnung zu Abend. Während des faden, von Morini aber höflich gelobten Abendessens unterhielten sie sich über Archimboldi, seine wachsende Berühmtheit und die unzähligen ungeklärten Fragen, später aber, beim Nachtisch, nahm das Gespräch einen persönlicheren, in Erinnerungen schwelgenden Verlauf, und bis drei Uhr morgens, als sie schließlich ein Taxi riefen und Norton Morini mit dem alten Fahrstuhl nach unten und dann noch über sechs Treppenstufen half, war alles, rekapitulierte der Italiener, viel netter gewesen als erwartet.
Zwischen Frühstück und Abendessen war Morini allein gewesen, anfangs ohne den Mut, das Hotelzimmer zu verlassen, bis er sich, von Langeweile getrieben, entschloss, einen Spaziergang zu unternehmen, der sich bis zum Hydepark ausdehnte, wo er ziellos, in Gedanken versunken und ohne auf jemanden zu achten, herumfuhr. Einige Passanten sahen ihn interessiert an, denn noch nie hatten sie einen Gelähmten gesehen, der mit solcher Entschlossenheit und in einem solchen Tempo unterwegs war. Als er endlich anhielt, befand er sich vor einem sogenannten Italienischen Garten, der ihm kein bisschen italienisch vorkam, obwohl, wer weiß, sagte er sich, manchmal ist man für das Offensichtlichste mit kosmischer Blindheit geschlagen.
Aus einer seiner Jacketttaschen zog er ein Buch und begann zu lesen, um sich ein wenig zu erholen. Kurz darauf hörte er, wie jemand ihn grüßte, und dann das Geräusch eines schweren Körpers, der sich auf eine Holzbank fallenlässt. Er erwiderte den Gruß. Der Unbekannte hatte strohblondes Haar, leicht angegraut und ungewaschen, und wog gut und gern seine hundertzehn Kilo. Sie sahen sich einen Moment lang an, und der Unbekannte fragte, ob er Ausländer sei. Italiener, sagte Morini. Der Unbekannte wollte wissen, ob Morini in London lebe und welches Buch er da lese. Morini sagte, er lebe nicht in London, und der Titel seines Buches laute Il libro di cucina di Juana Inés de la Cruz von Angelo Morino, und geschrieben sei es natürlich auf Italienisch, obwohl es von einer mexikanischen Nonne handle. Vom Leben und einigen Kochrezepten der Nonne.
»Diese mexikanische Nonne kocht also gern?«, fragte der Unbekannte.
»In gewissem Sinne ja, sie hat aber auch Gedichte geschrieben«, sagte Morini.
»Nonnen sind mir suspekt«, sagte der Unbekannte.
»Diese Nonne aber war eine große Dichterin«, sagte Morini.
»Leute, die nach Rezept kochen, sind mir suspekt«, sagte der Unbekannte, als hätte er ihn nicht gehört.
»Und wer ist Ihnen nicht suspekt?«, fragte Morini.
»Leute, die essen, wenn sie Hunger haben, vermutlich«, sagte der Unbekannte.
Dann begann er ihm auseinanderzusetzen, dass er vor langer Zeit mal in einer Fabrik gearbeitet habe, die Tassen herstellte, nichts als Tassen,
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