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Morini, »ich heiße Piero Morini, und er heißt Angelo Morino.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte der Unbekannte, »lesen Sie wenigstens die Namen von einigen Gerichten. Ich werde die Augen schließen und sie mir vorstellen.«
»In Ordnung«, sagte Morini.
Der Unbekannte schloss die Augen, und Morini begann langsam und mit schauspielerischer Betonung die Namen von einigen der Sor Juana Inés de la Cruz zugeschriebenen Gerichten vorzutragen:
Sgonfiotti al formaggio
Sgonfiotti alla ricotta
Sgonfiotti di vento
Crespelle
Dolce di tuorli di uovo
Uova regali
Dolce alla panna
Dolce alle noci
Dolce di testoline di moro
Dolce alle barbabietole
Dolce di burro e zucchero
Dolce alla crema
Dolce di mamey
Bei Dolce di mamey glaubte er, der Unbekannte sei eingeschlafen, und trat den Rückzug aus dem Italienischen Garten an.
Der folgende Tag ähnelte dem ersten. Diesmal holte Norton ihn vom Hotel ab, und während Morini die Rechnung beglich, verstaute sie den einzigen Koffer des Italieners im Kofferraum ihres Wagens. Als sie losfuhren, folgten sie derselben Route, auf der er tags zuvor zum Hydepark gelangt war.
Morini bemerkte das und betrachtete schweigend die Straßen und dann das Auftauchen des Parks, der ihn an einen schlecht kolorierten, furchtbar traurigen und aufwühlenden Urwaldfilm erinnerte, bis der Wagen abbog und sich in anderen Straßen verlor.
Sie aßen zusammen in einem Viertel, das Norton entdeckt hatte, einem Viertel an der Themse, wo früher Fabriken und Schiffswerften gewesen waren und in deren renovierten Gebäuden heute schicke Kleidergeschäfte, Feinkostläden und Restaurants eingezogen waren. Eine kleine Boutique, schätzte Morini, nahm ungefähr so viel Platz in Anspruch wie vier Arbeiterwohnungen. Das Restaurant so viel wie zwölf oder sechzehn. Die Stimme von Liz Norton schwärmte von dem Viertel und dem Engagement der Leute, die es wieder flottmachten.
Morini fand den Ausdruck flottmachen trotz seines seemännischen Gepräges unzutreffend. Im Gegenteil, als sie beim Nachtisch saßen, hatte er wieder Lust zu weinen oder, noch besser, in Ohnmacht zu fallen, zu vergehen, sanft von seinem Rollstuhl zu rutschen, den Blick fest auf Nortons Gesicht gerichtet, und nie wieder zu sich zu kommen. Aber gerade erzählte Norton eine Geschichte über einen Maler, den ersten, der in dieses Viertel gezogen war.
Er war ein junger Mann von etwa dreiunddreißig Jahren, in Malerkreisen bekannt, aber nicht das, was man berühmt nennt. In Wirklichkeit kam er hierher, weil die Miete für ein Atelier hier günstiger war als anderswo. Damals war das Viertel noch nicht so lebendig wie jetzt. Hier wohnten alte Arbeiter, die von der Sozialhilfe lebten, jedoch keine jüngeren Leute oder Kinder mehr. Die Frauen glänzten durch Abwesenheit: Entweder waren sie gestorben, oder sie hockten in ihren Wohnungen und gingen nie auf die Straße. Es gab nur einen Pub, und der war genauso abgerissen wie das ganze Viertel. Kurzum, es war eine einsame, heruntergekommene Gegend. Aber das schien die Phantasie und den Arbeitseifer des Malers zu beflügeln. Er war selbst ein mehr oder weniger einsamer Typ. Oder fühlte sich in der Einsamkeit wohl.
Darum machte ihm das Viertel keine Angst, im Gegenteil, es wuchs ihm ans Herz. Er liebte es, nachts heimzukommen und durch menschenleere Straßen zu laufen. Er liebte die Farbe des Lichts der Laternen und ihren Widerschein auf den Fassaden der Häuser. Die Schatten, die in Bewegung gerieten, sobald er sich bewegte. Die aschfahlen, rußigen Morgendämmerungen. Die einsilbigen Leute, die im Pub zusammenkamen, in dem er Stammgast wurde. Den Schmerz (oder die Erinnerung an den Schmerz), der in diesem Viertel von etwas Namenlosem buchstäblich aufgesogen wurde und sich durch diesen Prozess in Leere verwandelte. Das Bewusstsein, dass diese Gleichung möglich war: Schmerz, der schließlich zu Leere wird. Das Bewusstsein, dass diese Gleichung auf alles oder fast alles übertragbar war.
Tatsache ist, dass er sich mit größerem Elan als je zuvor in die Arbeit stürzte. Nach einem Jahr veranstaltete er eine Ausstellung in der Galerie Emma Waterson, einer alternativen Galerie in Wapping, und sein Erfolg war gigantisch. Auf ihn ging zurück, was man später den Neuen Dekadentismus oder Englischen Animalismus nannte. Die Bilder in der Eröffnungsausstellung dieser Schule waren groß, drei mal zwei Meter, und zeigten in einem Amalgam aus Grautönen die Überreste vom Schiffbruch seines
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